Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Plinio Martinis Valle Bavona

Schauplatz

«Rings um mich lag das Amerika, von dem ich geträumt hatte, riesengroß und bleich im Mondschein.
Da dachte ich erst recht an Cavergno, an die Häuschen, die sich mit offenen Türen eng zusammendrängten, um einander Gesellschaft zu leisten; zu einer Tür hinaus, zur nächsten hinein, und überall bist du zu Hause, unter Leuten deiner Art, die dich kennen und gern haben. Du riechst die gewohnten Gerüche und hörst die gewohnten Geräusche, und überall siehst du eine Mutter, die gerade die Suppennäpfe gewaschen hat und sich zu ihrem Strickzeug setzt, während wir auf die Glockentöne warteten, die uns alle miteinander zur Mitternachtsmesse rufen werden. Dass wir es dort schwer gehabt haben, schien mir jetzt nicht der Rede wert zu sein; es blieb nur die Erinnerung an all das Gute, das uns jeder Tag brachte, und der heiße Wunsch, zurückzukehren.»

Plinio Martini: Nicht Anfang und nicht Ende. Roman einer Rückkehr (italienischer Originaltitel: Il fondo di sacco)

© KEYSTONE
Zu Buch und Autor

Plinio Martini erzählt eine Auswanderer- und eine Rückkehrergeschichte und zugleich eine grosse Liebesgeschichte von seltener Behutsamkeit: «Maddalena war mitten unter uns aufgewachsen, doch sie schien ein Wesen anderer Art zu sein. Wir – wir waren nicht einmal imstande, normal zu gehen; aber wenn sie daherkam, drehten sich die Leute auf der Straße nach ihr um und hörten mitten im Satz zu reden auf. Wenn sie lachte oder sich das Haar zurückstrich, hätte man meinen können, dass kein anderer Mensch jemals auf diese Art gelacht oder die Hand gehoben hätte (...).»
Gori und Maddalena verlieben sich zu einem Zeitpunkt, als bereits feststeht, dass Gori nach Amerika auswandern wird – in der Hoffnung, der bitteren Armut in seinem Tal entkommen zu können. Als sie sich trennen, wissen sie noch nicht, dass sie sich in diesem Leben nicht mehr wiedersehen werden. Doch Maddalena holt sich nur zwei Jahre nach Goris Abreise eine tödliche Lungenentzündung – denn der Arzt kam regelmässig zu spät, wenn Unglückliche aus dem Tal von «Grippe, Lungenentzündung, galoppierender Schwindsucht oder Blinddarmentzündung hinweggerafft wurden».  Als Gori nach Jahrzehnten doch zurückkehrt («(...) es gab, solange ich in Amerika war, keinen einzigen Tag, an dem ich nicht mit einem tiefen Seufzer an unser Tal gedacht hätte»), ist nichts mehr in seinem Dorf, wie es einmal war…
Plinio Martini (1923-1979) wurde in Cavergno geboren, hat dort als Lehrer gearbeitet und ist in diesem Dörfchen auch gestorben. Den Durchbruch als Schriftsteller schaffte er relativ spät, erst 1970 erschien «Il fondo del sacco», wie das Buch im Originaltitel heisst. Es gehört zu den erfolgreichsten Büchern, die je von einem italienischsprachigen Schweizer verfasst worden sind.
Martini hat für dieses Romanporträt eines Tessiner Tales jeden Winkel, jeden Steg von Valle Bavona erkundet: «Wer unsere Berge nicht aus der Nähe kennt, kann unmöglich die riesige Arbeit ermessen, die nötig war, um die Alpwege zu errichten. Es sind kilometerlange Stützmauern und mehrere zehntausend Stufen. An den schwierigsten Stellen musste der Weg aus dem Fels gehauen oder Stege aus Lärchenbalken (cunscèda) gelegt werden. Eine gefährliche Arbeit, für die sich die Männer mit Seilen absichern mussten», ist in seinen Studien zu lesen. Die im Roman geschilderten Emigrationsschicksale, die Unfälle, vielleicht auch die Liebesgeschichten haben sich in seinem nächsten Umfeld zugetragen.(BP)

 

Zum Ort

Cavergno liegt am Eingang des Valle Bavona, einem Seitental des Maggiatales, im Kanton Tessin. Im Talboden gibt es zwölf Weiler (Terre), deren Bewohner Terrieri genannt wurden. Die erst nach 1950 gebaute Strasse und die noch heute fehlende Elektrizität haben deren ursprünglichen Charakter mit den traditionellen Steinhäusern und kleinen Kirchen bewahrt. Im Sommer wird das Tal von rund 2'000 Menschen bewohnt, im Winter ist es leer. Um die Kulturgüter zu schützen und über die Einhaltung des Zonenplans zu wachen, wurde 1990 die Stiftung Fondazione Valle Bavona gegründet.