Hans Boeschs Bever
«Er kam herab vom Berg: Ela. Crasta Mora, Il Danclèr, er fegte durch die Klus Zaffuns, er fegte durch das Dorf, durch die zwei Dutzend Häuser bei der Bahnstation, er jagte hinterm Dorf über den Flugplatz (...), hinauf durchs Val Chamuera, durch Buffalora, über Il Fuorn, und er stürzte hinab in die Ebenen, die Städte und Gräberfelder des Friauls, über Venedig weiter, über Triest. Er raste hinein nach Mazedonien, in den Kaukasus, nach Tibet, er war über Kamtschatka – und er kam über Alaska wieder herein nach Labrador, nach Island, Schottland, rund um den Pol kam er, er kam dorthin, wo er schon einmal gewesen war, wo er schon mehrmals gewesen war: über Flandern, über Lütrich, über Grand Ballon und Hartmannsweilerkopf, er kam über Bregenz, über Chur, er kam über Alvaneu, und er raste nochmals am Ela vorbei, vorbei am Blais Marscha, am Crasta Mora, Il Danclèr, und brach hervor aus dem Tal, Val Bever, aus dem Tal, das schwer war von Düsternis. Ohne Unterbruch raste er: Schnee. Mehr Asche schon als Schnee.»
Silvester 1999: In einem Gasthof im tief verschneiten Oberengadiner Dorf Bever warten Freunde und Bekannte auf weitere Gäste und erzählen sich Geschichten. Geschichten, die sich kreisförmig von Bever ausgehend über das Engadin, die Schweiz und schliesslich über den gesamten Globus dehnen. Und der Kreis schliesst sich stets in Bever.
Aus dem Gästebuch des kleinen Wirtshauses lesend berichtet die Wirtin Paola-Madlaina von ihrer Urgrossmutter und deren Geliebten Jéromy Geckeler, der in einem Schneesturm auf der Albula verschwand und nicht mehr widerkehrte: «Er ist über die Strasse hinausgeraten, über den Strassenrand. Und er strauchelte, stürzte. In einer Wolke aus Schnee stürzte er in die Dunkelheit.» Darin verwoben ist die Geschichte von Paola-Madlaina selbst, die in ihren Jugendjahren vom Oberhalbstein über den Septimerpass zu ihrer Urgrossmutter nach Maloja geflüchtet ist, um einer Zwangsheirat zu entkommen. Die ineinander verschränkten Erinnerungsebenen führen von Marmorera über den Septimerpass nach Maloja, von La Punt über die Bernina bis nach Poschiavo und vom Bodensee über den Albulapass bis nach Venedig. So wird dem Lesenden eine Welt eröffnet, nicht nur räumlich sondern auch zeitlich: Ein ganzes Jahrhundert wird anhand dieser ineinander verwobenen Geschichten rekonstruiert.
Hans Boesch (1926-2003) war nach dem Studium der Tiefbautechnik in Winterthur im Bereich der Raumplanung in der Privatindustrie und später als Verkehrsplaner und Dozent für Orts- und Landesplanung an der ETH Zürich tätig. Als solcher hatte Boesch stets einen besonderen Zugang zu seinem literarischen Schaffen und verstand sich nicht nur als Autor, sondern auch als Ingenieur seiner Texte. (AB)
Bever ist ein kleines Dorf im Oberengadin mit einem für das Tal typischen Dorfkern mit klassischen Engadinerhäusern. Historische Palazzi, Gasthäuser wie eines davon im «Kreis» als Schauplatz fungiert, faszinieren mit ihren schönen Gewölben und gemütlichen Stuben. Zwischen den alten Häusern mit ihren breiten Satteldächern und der Jakobskirche aus dem 14. Jahrhundert liegen wunderschöne Gärten.