Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
Logo Präsenz Schweiz

Wilhelm Raabes Andeer

Schauplatz

«Da hielt er (...) vor der offenen, bunt und verlockend mit einer italienischen Landschaft bemalten Bogenwölbung, durch welche der Weg weiter nach Italien geht und überließ sich, diesmal nicht ganz so willenlos als in Thusis, den Händen der Kellner, die aus der nebenan sich öffnenden Pforte des Wirtshauses hervorstürzten, um ihn in den Speisesaal zu geleiten.
Generationen auf Generationen von Touristen haben auf ihrem Wege nach oder aus den Orangenländern diesen Speisesaal im Hotel Travi zu Andeer kennen gelernt, und auf alle hat er wahrscheinlich, wenigstens sicherlich mitten im Hochsommer, einen fröstelnden Eindruck gemacht. Eine lange Tafel läuft durch den Saal, und wenn es nicht unangenehm sein mag, in angenehmer Gesellschaft, die Seele voll von geahnten oder geschauten Wundern, sich an diesem Tische, wenn auch e r besetzt ist, niederzulassen: so ist es um so schauerlicher, in einer Stimmung, wie die des Kapitän Sir Hugh war, nur einen einzelnen, in einen Überzieher gehüllten Gast, und zwar gegen Ende des Monats Mai, an ihm sitzend zu finden.»

Wilhelm Raabe: Christoph Pechlin. Eine internationale Liebesgeschichte (1873)

Zu Buch und Autor

Die zeitgenössische Kritik befand den «Christoph Pechlin» für toll, kreuzfidel, abenteuerlich, derbkomisch, amüsant, grotesk, burlesk. Ohne auf die breit angelegte Handlung mit Missverständnissen, Verlobungen, geheimen Liebschaften und einem unehelichen Kind im Detail einzugehen, soll doch auf eine sehr witzige Szene im «Hotel Travi» zu Andeer hingewiesen werden: Dort trifft ein gewisser Doktor Schmolke, Advokat aus Frankurt, auf einen Sir Hugh. Die Herren kennen sich. Aber es dauert einen Moment, bis sie es begreifen, so erstaunt sind sie über dieses Zufallstreffen zwischen Via Mala und Splügenpass:
«Dann rief der Engländer: ‹O yes, er ist es! Und dieses ist ein wonderfulles Zusammenstoßen!› Und der Frankfurter Advokat sprach: ‹Na, heere Se, Sir Juh, Sie hätt' ich auch anderswo eher zu begegne gedacht, als gerad hier zu Andeer! Sage Se merr um Gotteswille, wie kommen Sie denn eigentlich hieher, mein Allerliebster? Bei unserem letzten Zusammenstoß auf meinem Bureau behaupteten Sie doch, sich auf dem Wege nach Norwegen zum Forellenfang zu befinden.›
‹Dieses ist recht; aber ich habe mich umgedreht, Mr. Smolk. Und Sie sagten auch, daß ich Sie zu jeder Zeit in diesem Sömmer treffen würde in Ihr Office, und Sie sitzen doch auch in dies dreadful salle à manger.›» Am Ende einer langen Aussprache unternehmen die beiden gemeinsam die Rückreise nach Deutschland.
Das historische Vorbild heisst «Hotel Fravi» (Raabe macht «Travi» daraus), und alles was Raabe beschreibt, stimmt: sogar der bemalte Torbogen (Bild). Es wurde 1828 gegründet und steht auch heute noch Gästen offen. Wilhelm Raabe (1831-1910) ist darin selbst abgestiegen, ebenso wie Karl Marx, Conrad Ferdinand Meyer und Hans Christian Andersen. (BP)

© Wikimedia Commons
Zum Ort

Andeer liegt an der Via Spluga, dem historischen Alpenübergang von Thusis über den Splügenpass nach Chiavenna (Italien), den schon die Römer benutzten. Erstmals wurde Andeer im 13. Jahrhundert urkundlich erwähnt. Aus der nahegelegenen Mineralquelle «Funtana Nera» entspringt heilendes Wasser, das bereits im 19. Jahrhundert Feriengäste aus aller Welt anlockte. Der in der Nähe abgebaute grüne Gneis ist als «Andeerer Granit» weltweit bekannt.