Jean-Jacques Rousseaus Clarens
«Kaum hatte Julie mich erblickt, so erkannte sie mich. Mich sehen, aufschreien, auf mich zulaufen, sich in meine Arme werfen, all das war für sie nur eins. (...). In ihren Armen schöpfe ich Wärme und Leben; freudetrunken schließe ich sie in die meinigen. Ein geheiligtes Entzücken läßt uns in einem langen Schweigen eng aneinandergespreßt verharren; erst nach der so süßen Ergriffenheit beginnen unsre Stimmen zu verschmelzen und unsre Augen, ihre Tränen zu vermischen.»
Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die neue Héloïse. Briefe zweier Liebender am Fuße der Alpen (1761)
Um das Zitat zu verstehen, muss man die Vorgeschichte kennen: Die Geschichte einer unerlaubt-heimlichen, leidenschaftlichen Liebe zwischen dem bürgerlichen Hauslehrer Saint-Preux und seiner adeligen Schülerin Julie. Die Affäre mündet in die Trennung der Liebenden, in Entsagung, in Julies Heirat mit einem anderen, und schliesslich in den Unfalltod der Heroine.
Doch zu unserer Szene: Nach einer mehrjährigen Reise kehrt Saint-Preux an den Genfersee zurück, nach Clarens, wo seine Julie inzwischen als verheiratete Frau und Mutter lebt. Bei der Aussicht auf ein Wiedersehen mit ihr gerät Saint-Preux in einen regelrechten Rausch: Die «süsse Luft des Vaterlandes, lieblicher als die Wohlgerüche des Orients; dieser reiche, fruchtbare Boden; diese einzigartige Landschaft, die schönste, die jemals das menschliche Auge rührte; dieser reizende Ort, dem nichts gleichkommt, was ich bei meiner Reise um die Welt hatte (...).»
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) schrieb einen der ersten Romane überhaupt, in dem die Landschaft bis in einzelne Details als wiedererkennbare gestaltet ist. Die Genferseelandschaft wird hymnisch besungen. Nach dem stürmischen Wiedersehen (Zitat) unternehmen die beiden immer noch Liebenden eine Bootsfahrt voller Gefahren. Erst kentern sie fast in einem plötzlich aufziehenden Unwetter («Bald wurden die Wellen fürchterlich»), dann folgt ein innerer Sturm, dann gelingt es Saint-Preux kaum mehr, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Einen Augenblick lang überlegt er sogar, Julie mit sich in den See zu reissen, um allen Qualen ein Ende zu bereiten.
Ohne Übertreibung kann man sagen: Rousseau war ein Superstar des 18. Jahrhunderts. Seine Geschichte «zweier Liebenden am Fusse der Alpen», so der Untertitel, hat Tausende von Leserinnen und Lesern an die Schauplätze in Vevey, Clarens und Meillerie gelockt. Diese Literaturtouristen lasen die entsprechenden Stellen aus Rousseaus Roman, unter Tränen selbstverständlich, oder unternahmen eine literarische Pilgerfahrt auf dem Boot, so wie Lord Byron und Percy Bysshe Shelley im Sommer 1816 – mit Rousseaus Roman im Gepäck. (BP)
Clarens ist ein Vorort der Stadt Montreux am nordöstlichen Ufer des Genfersees und liegt damit an der «Waadtländer Riviera». Schon Lord Byron, Alexandre Vinet, Igor Strawinsky und Leo Tolstoi besuchten diesen Ort. Oberhalb von Clarens liegt auf einer Anhöhe das Château Châtelard, ein 1441 erbautes Schloss mit einem charakteristischen viereckigen Wohnturm. Seinen italienischen Stil erhielt er bei einer Restauration und Umgestaltung im 17. Jahrhundert. Vom Schloss aus hat man eine atemberaubende Aussicht auf Montreux, den Genfersee und die Alpen. Übrigens: In Clarens liegen bekannte Dichter begraben, unter ihnen Henri-Frédéric Amiel und Vladimir Nabokov.