Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Brigitte Kronauers «Binoz-Tal»

Schauplatz

«Wenn er nach vorn oder zurücksah, blieb er jedesmal stehen. Stop! Das hatte ihm der Schriftsteller als Vorsichtsmassnahme eingeschärft. In beide Richtungen schoben sich die Vorsprünge der beiden Bergketten gestaffelt oder auch schuppenartig vor- oder hintereinander, wie man es nahm. Er wurde in diesen Felszopf regelrecht eingeflochten. Herzklopfen, Atemnot, Schwitzen, alles stellte sich pünktlich, jedoch ignorierbar ein. Der Taleingang in seinem Rücken ließ sich nicht mehr blicken, wenn er sich umdrehte.»

Brigitte Kronauer: Errötende Mörder (2007)

© Wikimedia Commons/Stefanski
Zu Roman und Autorin

Der Held, der hier bei seinem ersten Spaziergang durch die Schweizer Bergwelt den Überblick schon verloren hat, ist der Büromaterialverkäufer Jost Böhme. Eine wunderliche Aufgabe hat ihn ins Gebirge geführt: Einer seiner Kunden – jener Schriftsteller, von dem auch im Zitat die Rede ist – stellt ihm sein Chalet in der Schweiz für drei Tage zur Verfügung, allerdings unter einer Bedingung: Er muss jeden Tag einen von dessen Kurzromanen lesen. Böhme nimmt dankbar an, denn dem Papierverkäufer kommt etwas Abwechslung sehr gelegen; hatte er sich doch bei einer Ehescheidung so sehr in den Alltagstrott seines Geschäfts verrannt, dass er sich selber schon als Büroartikel wahrnimmt: «Er glaubte seit einiger Zeit, im Grunde ein Karton zu sein.» So macht er sich in die Schweiz auf und dort räumt Kronauers Text vor allem den drei von ihm zu lesenden Kurzromanen viel Raum ein. Der Leser kann so mit dem Helden miträtseln, was es mit dem sonderbaren Auftrag und den allesamt recht obskuren Romanen auf sich hat. Und genau für dieses Vexierspiel setzt Kronauer auch die schweizerische Landschaftsszenerie ein, in die der Held, wie im Zitat, «regelrecht eingeflochten» wird. Und ja, es geht auch um Mord und Mörder, wie der Romantitel in Aussicht stellt – mehr sei aber an dieser Stelle nicht verraten... (NP).

Zum Ort

Das fiktive «Binoz-Tal» könnte dem Klang nach auch im Wallis liegen; wir haben uns für Graubünden entschieden, für die Gegend um Savognin, da sich hier die Ortsnamen mit oz-Endungen auffallend häufen: Vaznoz (Wiese, Äcker), Tscharnoz (Kälberalp), Igls Parnoz (Bergwiese), Scarnoz (Fettwiese) und so fort. Das Bild zeigt stellvertretend die Südseite des Piz Mitgels, oberhalb von Savognin.
Aus dem Text geht lediglich hervor, dass es sich um einen Fall ganz typischer Tourismusindustrie handelt: Kleine Grillplätze und wuchtige Berge gibt es, sowie ein Berghotel mit routiniert abgespultem Abendprogramm. Und auch die Zersiedelung der Landschaft ist Kronauer nicht entgangen. So werden die Lese-Spaziergänge des Helden durch einen Fremden gestört, der vor der Geldgier von Bauspekulanten warnt. Schuld seien: «kurzsichtiger Gemeinderat, unersättliche regionale Bauwirtschaft, ausländische Unternehmer mit Raubtierhormonen, von der üblichen Bestechung und von der Manipulation der Gutachten gar nicht zu reden. Und was die Zurechnungsfähigkeit der Bevölkerung angehe …» Dies ist nicht nur Kronauers Figur aufgefallen. 2012 kam die sogenannte «Zweitwohnungs-Initiative» vors Volk. Um die Zersiedelung der Landschaft durch Ferienwohnungen zu begrenzen, sollte demnach keine Gemeinde mehr als 20 Prozent Zweitwohnungen aufweisen. Und die Initiative wurde vom Wahlvolk, trotz dessen von der Kronauer-Figur in Zweifel gezogenen Zurechnungsfähigkeit, deutlich angenommen.