Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Friedrich Dürrenmatts «Güllen»

Schauplatz

«DER BÜRGERMEISTER Mit dem Einuhrdreizehn-Personenzug von Kalberstadt kommt der hohe Gast.
DER LEHRER Der gemischte Chor singt, die Jugendgruppe.
DER PFARRER Die Feuerglocke bimmelt. Die ist noch nicht versetzt.
DER BÜRGERMEISTER Auf dem Marktplatz bläst die Stadtmusik, und der Turnverein bildet eine Pyramide zu Ehren der Milliardärin. Dann ein Essen im Goldenen Apostel. Leider reicht es finanziell nicht zur Beleuchtung des Münsters und des Stadthauses am Abend.
DER PFÄNDUNGSBEAMTE kommt aus dem Häuschen Guten Morgen, Herr Bürgermeister. Grüße rechtherzlich.
DER BÜRGERMEISTER Was wollen Sie denn hier, Pfändungsbeamter Glutz?
DER PFÄNDUNGSBEAMTE Das wissen Herr Bürgermeister schon. Ich stehe vor einer Riesenaufgabe. Pfänden Sie mal eine ganze Stadt.
DER BÜRGERMEISTER Außer einer alten Schreibmaschine finden Sie im Stadthaus nichts.
DER PFÄNDUNGSBEAMTE Herr Bürgermeister vergessen das Güllener Heimatmuseum.
DER BÜRGERMEISTER Schon vor drei Jahren nach Amerika verkauft. Unsere Kassen sind leer. Kein Mensch bezahlt Steuern.
DER PFÄNDUNGSBEAMTE Muß untersucht werden. Das Land floriert, und ausgerechnet Güllen mit der Platz-an-der-Sonne-Hütte geht bankrott.
DER BÜRGERMEISTER Wir stehen selber vor einem wirtschaftlichen Rätsel.»

Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (1956)

Zu Drama und Autor

Güllen liegt zwischen Kaffigen und Kalberstadt, irgendwo in Mitteleuropa. Oder vielleicht doch in der Schweiz? Sicher ist: Es war einmal eine Industrie- und Kulturstadt von (Welt-)Bedeutung, reich und überaus innovativ. Damals hielten die Expresszüge in Güllen, Brahms komponierte hier ein Quartett, Berthold Schwarz erfand das Pulver und sogar Goethe war einst Gast. Nun prägen leerstehende Fabriken, Rost und Suppenanstalten das Stadtbild. Und die Züge halten nicht mehr. Doch es gibt Hoffnung. Die Milliardärin Claire Zachanassian, Besitzerin grosser Unternehmen und weitherum bekannt für ihre Grosszügigkeit, macht Halt in Güllen. Claire allerdings hat eine ganz eigene Agenda, was sich unter anderem daran zeigt, dass sie in ihrem Gepäck einen Sarg mitführt... Das Motiv für ihren Besuch in der heruntergekommenen Kleinstadt ist nämlich Rache – an ihrem früheren Geliebten Alfred Ill, der sie damals als junges, schwangeres Mädchen hat sitzen lassen. Ill muss sein Leben lassen und das auf sehr schauerliche Weise. An seiner Ermordung ist das ganze Dorf beteiligt.
Mit dieser «tragischen Komödie» ist Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) 1956 der internationale Durchbruch gelungen. Seine Botschaften sind zeitlos: Geld regiert die Welt und hinter der Maske bürgerlicher Moral lauert die Verlogenheit. (AB)

© KEYSTONE/Gaetan Bally
Zum Ort

Zwar liegt Güllen irgendwo in Mitteleuropa, aber einen klar lokalisierbaren Inspirationsort gibt es dennoch. Lassen wir Dürrenmatt selbst sprechen: «Ich hätte die Alte Dame nie geschrieben, wäre mir die Bühnenidee dazu nicht eingefallen. Diese bestand nicht etwa darin, dass ich aus dem Bergdorf ein Städtchen machte, sondern im Umstand, dass auch die Schnellzüge Bern – Neuchatel in Ins und Kerzers anhalten, wodurch man gezwungen ist, die beiden kleinen trostlosen Bahnhöfe zu betrachten, ungeduldig über den Unterbruch, wenn er auch nur ein, zwei Minuten dauert, Minuten, die sich für mich lohnten, kam ich doch durch sie wie von selbst auf die erste Szene.[...]». Unser Bild zeigt ein Schienenkreuz und einen durchbrausenden Schnellzug in Kerzers. Passend zum Thema des Stücks könnte man das historische Stellwerk besichtigen mit einer in Europa einzigartigen Gleisanlage.