Andri Peers Gonda Cotschna
«Der Wald verwandelt sich mit jedem Schritt, den ich bergan nehme, immer den Gratbuckeln folgend: ein Sattel, ein Steilhang mit rötlichen Felsköpfen und dann wieder eine dichtbewaldete Kuppe: Arven und Lärchen. Die mürrischen Mienen der Tannen bleiben zurück. Es riecht nach Wacholder und Fuchslosung, nach Alpenrosen, jedesmal, wenn ich auf die Zweige trete; jener bittere Geruch, der in der Nase beisst, vermischt mit dem Heidegeruch und jenem blauen, weinigen Duft der Heidelbeere. Aber über allem, stärker, tiefer, wie ein Alphornton, der Duft der Arve, der Arve, die Herrin ist hier oben. Die Arve, die ihr grünes Licht von Leuchter zu Leuchter ausgiesst, die Arve, die langsam wächst und wie sie will und wo sie will, die Arve, die sich windet und biegt und unter dem Blitz zersplittert und neue Wipfel emportreibt und geduldig an ihren Zirbelnüssen baut, die schön und prall sind wie kleine Skulpturen aus Schiefer, die Arve mit ihren langen, knotigen Wurzeln, die sich am Berg festklammern und durch die toten Nadeln und das trockene, dürre Moos emportauchen wie Riesenarme, welche im Schoss der Erde schwimmen.»
Andri Peer: Jagdmorgen (1961, rätoromanischer Orginaltitel: Daman da Chatscha)
Vier Uhr in der Früh, ein junger Jäger wird in einer nach Arvenholz riechenden Stube von seiner Mutter geweckt: Es ist Zeit, auf die Jagd zu gehen. Bei seinem Aufstieg von Lavin (das nicht namentlich genannt, aber identifizierbar ist) in Richtung Conda Cotschna saugt Alesch die Natureindrücke mit allen Sinnen ein: Gerüche, Geräusche, der Übergang von der Dunkelheit in die Morgendämmerung. Mit einem Blattschuss erlegt er seinen ersten Gemsbock, weidet ihn aus und trägt ihn zu Tal, stolz, aber auch ein wenig melancholisch bei der Betrachtung des toten Tierkörpers: «Da kommst du und zerstörst all das mit deiner klatschenden Kugel und gehst heim und frisst deine Gemse auf und bist zufrieden.»
Andri Peer (1921-1985) ist im Unterengadin geboren und hat von dort aus eine Gelehrtenlaufbahn eingeschlagen: Studium der romanischen Sprachen in Zürich und Paris, Promotion über die «Terminologie des Bauernhauses in romanisch Bünden», anschliessend Tätigkeiten als Gymnasiallehrer in Chur und Hochschuldozent an der Universität Zürich. Er gilt als bedeutendster rätoromanischer Lyriker des 20. Jahrhunderts – die Wahl-Senterin Angelika Overath schildert in «Alle Farben des Schnees» (2010) die Peer-Lektüre als Offenbarung. Neben Lyrik hat Peer auch Erzählungen verfasst, von denen hier der «Jagdmorgen» ausgewählt worden ist: Schon kurze Auszüge (Zitat) zeigen: Es ist fast unmöglich, die Bündner Landschaft noch poetischer und sinnlicher – und vor allem: synästhetischer – zu beschreiben, als Peer das getan hat. (BP)