Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
Logo Präsenz Schweiz

Thomas Hürlimanns St. Galler Klosterbibliothek

Schauplatz

«Und die nächste kam, und sie stieg in die Filzhauben, und wiewohl ich nach wie vor darunter litt, ausgerechnet mit der Nase nach den Katzen zu schlagen, machte es mir doch einen Höllenspass, das scharfe Ding möglichst nah an ihr leicht angezogenes Knie zu halten und mit geblähten Nüstern hereinzuholen, was deutsche Studienrätinnen und weizenblonde Primarlehrerinnen aus Bern-Bümpliz über mich herabwehen liessen, mal wurstwürzig nach Braten, mal weihnachtlich nach Zimt duftend, mal nach Nivea-Crème, Fisch und unbekannten, heiss ersehnten Fernen. Was für ein Leben! Auf meinem Pantoffelhaufen flog ich von Duftwolke zu Duftwolke, von Frau zu Frau, von Rock zu Rock, die nächste bitte, die nächste, die nächste!»

Thomas Hürlimann: Fräulein Stark (2001)

Zu Buch und Autor

Eine völlig unbekannte und verlockende Welt eröffnet sich dem pubertierenden 12-jährigen Jungen, als er während seiner Sommerferien zum «Pantoffelministranten» ernannt wird. Schauplatz der Novelle «Fräulein Stark» ist die weltberühmte St. Galler Klosterbibliothek. Es ist der Stiftsbibliothekar und Onkel des Jungen, der ihm das besagte Amt zuspricht. Dessen Haushälterin Fräulein Stark findet aber schon bald, dass die Pantoffeln «nichts für den Buben» seien und er sich mit den unkeuschen Blicken und den dauernden Schnüffeleien nur versündige. Der Neffe sei schliesslich «ein kleiner Katz», da müsse man besondere Vorsicht walten lassen. «Katz», ein rätselhafter Name – der Junge weiss nicht so recht, was er damit verbinden soll. Jedoch scheint ihn niemand zu mögen und schon gar nicht tragen zu wollen. «Es ging ihm mit diesem Geschlecht wie mit dem Dunkel unter den Röcken – fremd war es und voller Reize.» Die in den sechziger Jahren angesiedelte Erzählung spielt laut Hürlimann mit dem «Doppelsinn des Wortes Geschlecht»: Einerseits mit der erwachenden Sexualität des Jungen, andererseits mit dem Entdecken seiner jüdischen Herkunft. Letzteres – beziehungsweise vermeintlich antisemitische Äusserungen im Roman –  gaben Anlass zu hitzigen Diskussionen.
Auch Thomas Hürlimann, 1950 in Zug geboren, war als Primarschüler einen Sommer lang bei seinem Onkel in der Stiftsbibliothek als Ferienhilfe tätig. Danach trat er in die Stiftsschule Einsiedeln ein, eine Zeit an die er sich nur ungerne erinnert. Nach einem abgebrochenen Studium der Philosophie begann der Sohn des ehemaligen Bundesrats Hans Hürlimann als freier Schriftsteller in Deutschland zu arbeiten. Der heute in Berlin lebende Schweizer Autor setzt sich in seinen Werken vermehrt mit der jüngeren Schweizer Geschichte auseinander. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den Joseph-Breitbach-Preis für seine Novelle «Fräulein Stark». (MT)

© swiss-image.ch/Stephan Engler
Zum Ort

Aus der im Jahre 612 begründeten Zelle des irischen Mönchs Gallus ging das Benediktinerstift St. Gallen hervor, wo ab dem 8. Jahrhundert geschrieben wurde. Daraus wuchs eine der grössten und ältesten Klosterbibliotheken der Welt. Die Stiftsbibliothek St. Gallen besitzt 2100 Handschriften. Im barocken Bibliothekssaal wird ein Teil davon ausgestellt. Dort ist auch die ägyptische Mumie Schepenese zu sehen. Über dem Eingang steht das griechische Wort «psychisiatreion» – Seelenheilstätte. Das einfachere Gemüt erfreut St. Gallens Beitrag zur Schweizer Küche – die «St. Galler Bratwurst».