Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Gertrud Wilkers Liebefeld

Schauplatz

«Man merkt, daß die Energiereserven abnehmen. Der Muskeltonus lockert sich. An den Fingern, die beim Schreiben schlaff um den Kugelschreiber liegen, fällt es mir besonders auf. Sogar die Jungen blödeln neuerdings müde herum. Robi spielt mit seinen nackten Zehen. Judo scheint zu anstrengend geworden zu sein. Wir schlafen plötzlich ein und dösen trotz allerlei unbeschreiblichen Lauten. Wir sind schon weniger wert als gestern oder vorgestern. Ich sage 'wir', dabei reden wir nicht miteinander.
Bestimmt sind die Spitalbetten inzwischen von Leichen belegt. Auch dafür ist vorgesorgt worden. Gelöschter Kalk oder Schwefelsäure.»

Gertrud Wilker: Flaschenpost (1970)

© KEYSTONE
Zu Erzählung und Autorin

Die Schweiz nach einem Atom-GAU: In Liebefeld bei Bern haben dreihundert Menschen überlebt und sich in einen Betonbunker retten können. Die schon empfangene Strahlendosis fordert aber bald ihren Tribut, auf den Pritschen und Notbetten beginnt das grosse Sterben. In einer Ecke schreibt eine Frau unermüdlich an einer «Flaschenpostnachricht», denn die Sprache ist das einzige, das jetzt noch Halt geben kann. «Obgleich ich persönliche Hoffnungen aufgab, hoffe ich für meine Wörter. Dass sie strahlensicher seien, und das, was vor der Betontür zerstört wird, überdauern. (...) Aber Wörter seien dauerhaft, sagte man. Man könne sie unbeschränkt lange sich selbst überlassen (wie Bakterien). Sofern sie wieder in Gebrauch gesetzt würden, blieben sie lebensfähig über Katastrophen hinaus. Ich wiederhole das zu meiner eigenen Beruhigung.» 
Gertrud Wilker (1924-1984) begann mit ersten Arbeiten an der Erzählung «Flaschenpost» schon 1969. Als der Text dann 1977 erschien, ging er leider beinahe unter in der Flut der damals aktuellen Anti-AKW-Literatur. Aber er ist eine Entdeckung. Tod, Todesnähe, Auseinandersetzung mit dem Tod waren grosse Themen für die Autorin – nicht nur literarisch. Ab 1978 sah sie sich mit einer schleichenden, tödlichen Krankheit konfrontiert, der sie 1984, im Alter von nur sechzig Jahren, erlag. (BP)

Zum Ort

Liebefeld, einst ein Bauerndorf, gehört zur Berner Vorstadt Köniz. Bekannteste Institution war über Jahrzehnte die «Landwirtschaftliche Versuchsanstalt Liebefeld», wo in modernen Versuchsanlagen agrochemische Substanzen getestet und neue Methoden der Käseherstellung ausgetüftelt wurden. Internationale Aufmerksamkeit entstand 2009, nachdem eine japanische Zeitung gemeldet hatte, der heutige nordkoreanische Diktator Kim Jong Un habe als Teenager die öffentliche Schule Liebefeld-Steinhölzli besucht. Die Behörden teilten mit, ein Schüler dieses Namens sei nie gemeldet gewesen, hingegen habe Ende der neunziger Jahre ein als Sohn eines nordkoreanischen Botschaftsangestellten eingeschriebener Junge die Schule besucht. Unser Bild zeigt den «Liebefeld Park» mit seinem grossen Teich. Er wurde mit einem Preis für gute Landschaftsarchitektur ausgezeichnet.