Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Über das Projekt

Literaturlandkarten der Schweiz: Streifzüge durch das Land der Dichtung
Willkommen zu einer besonderen Entdeckungsreise! Präsentiert wird eine andere Landkarte der Schweiz, eine durch und durch literarische. An dieser erdachten, erdichteten Schweiz haben viele verschiedene Stimmen ihren Anteil: In der Schweiz geborene Autorinnen und Autoren stehen neben solchen aus anderen Herkunftsorten – Dichter und Dichterinnen, die vorübergehend oder dauerhaft in der Schweiz gelebt haben, die einen aus freiem Willen, die anderen als Flüchtlinge vor Krieg, Not und Angst. Im Zentrum steht die deutsche Literatur, ergänzt um Kostbarkeiten aus den Literaturen der französischen, der italienischen und der rätoromanischen Schweiz.

Literarische Nachbarschaften
So kommt es zu erstaunlichen literarischen Nachbarschaften: Peter Stamm findet sich in der Bodenseeregion in Gesellschaft von Carl Sternheim und Franz Hodjak, am Genfersee treffen Jean-Jacques Rousseau, Stefan Zweig und Gustav Meyrink auf W. G. Sebald, den Schauplatz Zürich teilen sich Alfred Döblin, Klaus Mann und Wolfgang Koeppen mit Franz Hohler und Melinda Nadj Abonji. Denn auf der Literaturlandkarte mischen sich Epochen, Kulturen, Nationen und Schicksale – verbunden durch nur eine Gemeinsamkeit: die Schauplätze und Inspirationsorte liegen innerhalb der Schweiz. Auffällig viele und vielfältige Herkünfte und Hintergründe vereinen sich auf dieser Schweizer Karte, deutsche, österreichische, schweizerische, dänisch-deutsche, deutsch-französische, deutsch-britische, ungarisch-schweizerische und andere Beiträge sind darauf zu finden. Nicht die «Nationalliteratur» interessiert hier, sondern die Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit des literarischen Raums. Bei aller Willkür der Auswahl zeichnet sich auf diesen keineswegs vollständigen Literaturlandkarten eines deutlich ab: Zwischen den Jurahöhen und dem Bodensee, zwischen den Zentren Zürich, Bern, Basel und den einsamen Tessiner Tälern erstreckt sich das Territorium eines gemeinsam geschaffenen kulturellen Erbes, das in dieser Kombination erstmals sichtbar wird.

140 Schauplätze, eine Übersichtskarte und fünf Themenkarten
Die Einträge sind auf einer Übersichtskarte zu finden, dort lassen sie sich filtern nach verschiedenen Kriterien. Zusätzlich sind Spezialkarten für literarische Grossthemen aufrufbar: für Liebesbegegnungen, Mord- und Todesfälle, Zukunftswelten, Gedankenreisen sowie – unter dem Titel «Ortsnamensspiele» – für erfundene und umbenannte Schauplätze. Die fünf Spezialkarten arbeiten mit neu gestalteten Symbolen. Die Herzen auf der Liebes- und die Grabsteine auf der Todeskarte sind selbsterklärend. Diese beiden Karten zeichnen sich durch eine Fülle von Unterkategorien aus: Auf der Liebeskarte  lassen sich wahlweise Szenen von erfüllter oder unerfüllter Liebe, von Trennung oder Erotik verfolgen. Auf der Todeskarte zeigen die Symbole auch an, ob es sich um natürlichen Tod oder Krankheit, um Mord, Unfall, Naturkatastrophe oder Suizid handelt. Der Hintergrund der Zukunftswelten-Karte  (utopische Entwürfe und Alternativgeschichten) ist vom «motherboard» eines Computers inspiriert – der zentralen Platine in Grün-, Braun- und Silbertönen. Die Schauplatznamen erscheinen hier in LCD-Schrift und zeigen an, in welches Jahr vorgespult wird oder was geschehen wäre, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre («Was, wenn Lenin 1917 die Schweiz nicht verlassen hätte?») . Auf der Karte zum Thema Ortsnamenspiele zeigt eine Feder an, dass ein bekannter Ort einen Decknamen erhielt, und ein umgekipptes Tintenfass, dass sich ein fiktiver Schauplatz (Beispiel: Seldwyla) nur ungefähr verorten lässt. Von Sternschnuppen inspirierte Symbole für Traum, Erinnerung und Sehnsucht visualisieren die Gedankenreisen. Die Literaturkarten eröffnen so auf anschauliche Weise den Zugang zu literarischen Bedeutungsschichten. Denn anders als Architektur- und Natursehenswürdigkeiten ist «ortsgebundene» Literatur nicht sichtbar – und doch prägend für die Geschichte einer Stadt oder einer Landschaft.

Lücken und Trouvaillen
Vieles, was zu erwarten wäre, lassen diese Karten aus: Friedrich Nietzsche in Basel und Sils-Maria, Robert Musil in Genf, Stefan George in Minusio, Carl Zuckmayer in Saas-Fee, Golo Mann und Alfred Andersch in Berzona, Else Lasker-Schüler in Zürich, Rolf Hochhuth in Basel. Ungezählte Schweizer Autorinnen und Autoren fehlen ebenfalls, denn es musste eine – auch für uns schmerzliche – Auswahl getroffen werden. Um es ganz klar zu sagen: Es hätten sich leicht mehrere Hundert  Schauplätze finden lassen, aber selbst dann wäre die literarische Landkarte noch immer lückenhaft. In manchen Fällen wurde auf kanonische Literaturgrössen verzichtet, um Platz zu schaffen für die Gegenwartsliteratur. Denn möglicherweise sind die Schweiz-Bezüge von Thomas Kling, F. C. Delius, Dea Loher, Brigitte Kronauer, Wilhelm Genazino und Gerhard Falkner weniger bekannt als jene der grossen Dichter des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Und selbstverständlich gäbe es zahllose Ergänzungen aus anderen Literaturen: Auch das Ehepaar Shelley, Scott, Twain, Hemingway, Fitzgerald, Tolstoi, Daudet, Strindberg, Andersen, um nur ein paar Namen zu nennen, haben in der Schweiz markante literarische Spuren hinterlassen. Sie fehlen, weil die Karte auf die deutschsprachige Literatur und die Schweizer Literatur fokussiert. Unsere augenblickliche Literaturlandkarte ist vielleicht am ehesten zu verstehen als ein Schaufenster, das einen Blick auf ein fast unendlich erweiterbares Thema erlaubt. Wen es schon jetzt in den Fingern juckt: Die dringlichsten Ergänzungswünsche können hier  deponiert werden.

Auswahlkriterien
Ganz zufällig ist die Auswahl natürlich nicht. Zumindest ansatzweise wurde versucht, eine Balance zwischen Klassikern und lebenden Autoren, zwischen Männern und Frauen, zwischen in der Schweiz Geborenen und nicht in der Schweiz Geborenen herzustellen. Weitere Kriterien waren eine geografisch attraktive Verteilung sowie die Zuordnung zu den fünf Spezialthemen. Einiges ist aufgetaucht, das – wenn nicht schon bekannt – Freude beim Entdecken macht. Dass Gottfried Keller dem späteren Nobelpreisträger Paul Heyse geholfen hat, dessen Novelle «Der verlorene Sohn» mit echtem Berner Lokalkolorit zu versehen. Dass Theodor Fontane  die berühmt-berüchtigte Viamala zwar mit eigenen Augen gesehen hatte, aber nicht wagte, sie zu schildern. Oder dass Rainer Maria Rilke auf Schloss Muzot nicht nur die «Duineser Elegien» vollendete, sondern auch Gedichte über das Wallis, die er als Beweis seiner Verbundenheit mit Land und Leuten bei einer allfälligen Einbürgerung vorlegen wollte.

Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen und beim Klicken!

* Barbara Piatti, Literaturwissenschaftlerin, Basel
* Anne-Kathrin Weber, Kartografin, Zürich

 

* Dr. Barbara Piatti und Dr. des. Anne-Kathrin Weber haben von 2007-2013 gemeinsam an der ETH Zürich, Institut für Kartografie und Geoinformation, geforscht. Ihr interdisziplinäres Projekt trägt den Titel «Ein literarischer Atlas Europas» (www.literaturatlas.eu) und ist zu einer Referenz für das wachsende, internationale Feld von Literaturgeografie und Literaturkartografie geworden. Zwar können diese Forschungszweige auf eine über hunderjährige Tradition zurückblicken,  aber erst in den letzten fünf Jahren haben sie einen starken Aufschwung erfahren – durch erfolgreiche Allianzen mit kartografischen und digitalen Technologien.