Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Alberto Nessis Le Locle

Schauplatz

«Le Locle: ‹loculo›, Grabnische, nannten meine Landsleute den Ort. Weil dort eine Grabeskälte herrscht und ein Wind weht, der von dreißig Pfoten gebracht wird, er fährt dir in die Knochen wie Todeskälte. Wind und Raben streifen über die Felder. Ich war mit meiner Mama in den Jura gekommen, weil die Gebirgsluft Lungenschwachen guttut. Und was mich als Erstes beeindruckte, waren die Raben. Es sind keine heiteren Vögel (...).»

Alberto Nessi: Nächste Woche, vielleicht (2008, italienischer Originaltitel: La prossima settimana, forse)

© KEYSTONE
Zu Roman und Autor

Alberto Nessi fächert ein ungewöhnliches Migrantenleben im 19. Jahrhundert auf: Hoffnungsloses Hungertessin, zukunftsträchtiger Neuenburger Jura mitsamt Uhrenindustrie und schliesslich das faszinierende Labyrinth Lissabons – das sind José Fontanas Stationen. Und alle sind mit viel Detailkenntnis geschildert, die drei Handlungsräume erlangen beinahe filmische Präsenz. In der portugiesischen Hauptstadt begegnen wir José zuerst, er hat sich dort als Buchhändler etabliert, in der ältesten Buchhandlung der Stadt, «seit 1727 im Dienst der Kultur». Die Abende sind der Politik gewidmet, José hat sich der sozialistischen Bewegung zugewandt.
Doch es ist auch die Geschichte von einem, der in die Fremde zog, und das Kindheitsland doch nie vergessen konnte. Lange Passagen sind Josés Erinnerungsbilder an seine ersten Jahre im Tessin und an die Zeit als Uhrmacherlehrling in Le Locle gewidmet, wo der Föhn «aus der Sahara kommt und den Wahnsinn bringt». In Le Locle hat er auch kurz hintereinander Mutter und Schwester verloren: «Wenn nachts ein Hund heult, nähert sich der Tod. (…) Ich erinnere mich an meine Mutter mit Rosenkranz und Kruzifix in den gefalteten Händen. Sie hatten sie mit Essigwasser gewaschen und ihr ein Kleid mit weißen Blumen auf schwarzem Grund angezogen, damit sie würdig vor dem höchsten Gericht erschien. Die Fensterläden ihres Zimmers waren angelehnt, so konnte die Seele frei den Weg in die andere Welt hinaus antreten. So verließ ich mit sechzehn Jahren den Jura, nach dem Tod meiner Mutter und meiner Schwester Gesualda. Der Hund der Nacht jagte mich weg.»
Alberto Nessi, geboren 1940 in Chiasso, Lehrerseminar in Locarno und Studium in Fribourg. Heute lebt er als Schriftsteller und Publizist im Mendrisiotto, Tessin. (BP)

Zum Ort

Der Bogen des Juragebirges ist das Herzstück der Schweizer Uhrenindustrie, und Le Locle (916 m ü. M.) im Neuenburger Jura, dicht an der Grenze zu Frankreich, gilt als deren Wiege. Schon 1750 waren in der Region Le Locle über 70 Uhrmacher tätig, hundert Jahre später hatte die Uhrmacherei den Ort in eine Industriestadt verwandelt. Das Uhrenmuseum zeigt Bedeutung und Einfluss dieser Industrie, die auch ein bedeutendes Gravur- und Medaillenhandwerk hervorbrachte. Das Stadtbild weist wie jenes im benachbarten La Chaux-de-Fonds einen Schachbrettgrundriss auf und gehört zum UNESCO-Welterbe.