Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Yoko Tawadas Gotthardtunnel

Schauplatz

«Ich stieg in Göschenen aus. Nicht nur weil ich eine Denkpause vor dem Gotthardtunnel brauchte, sondern weil mich der Ort faszinierte. Göschenen besass eine Schönheit, die in einem Reisebüro nicht vorkommt. Der Ort wurde sicher aus dem Klang seinen Namens geboren. Göschenen: jedes Element der Landschaft wiederholte diesen Namen. Die steilen Felswände murmelten 'Göschenen', wenn der Wind ihre grauschwarze Haut streichelte. Im Wind tanzten winzige staubige Schneeflocken. Die Tunneleingänge, zwei schwarze Löcher, konnte man vom Bahnsteig aus sehen. Wenn es im Tunnel einen Geist gäbe, würde er bestimmt auch den Namen Göschenen tragen. (...) Ich nahm den nächsten Zug und fuhr in den Gotthardtunnel hinein. Er sollte etwa 15 Kilometer lang sein. Ich dachte an das unvorstellbare Gewicht, das sich über meinem Kopf befand. Es gab keinen einzigen Zwischenausgang. Man konnte überhaupt nicht ausweichen. Ab und zu sah ich an beiden Seiten Nischen, in denen gut heilige Statuen hätten stehen können.»

Yoko Tawada: Im Bauch des Bergs (1995)

© KEYSTONE/ Gaetan Bally
Zu Text und Autorin

Was erlebt eine (deutsch schreibende) Japanerin, wenn sie zum ersten Mal mit der Eisenbahn durch den Gotthard fährt? Und noch wichtiger: Weshalb scheint ihr plötzlich Göschenen das Ziel aller Wünsche zu sein? Yoko Tawada ist 1960 in Tokio geboren und lebt seit 1982 in Deutschland.  Sie ist ein sprachliches Ausnahmetalent, da sie sowohl in ihrer Muttersprache wie auch auf Deutsch schriftstellerisch tätig ist. Dieses Pendeln und Oszillieren zwischen den Sprachen ist auch immer wieder zentrales Thema in ihren Texten. Ihre Impressionen vom «Bauch des Gotthards» halten ein paar Überraschungen bereit und das Schulaufsatzthema bekommt plötzlich eine ganz andere Färbung. (BP)

Zum Ort

Der 15,003 Kilometer lange Gotthardtunnel verläuft unter dem St. Gotthardpass und verbindet Göschenen im Kanton Uri mit Airolo im Tessin. Er wurde 1872 bis 1880 gebaut und 1882 als damals längster Bahntunnel der Welt in Betrieb genommen. Hinter dem Projekt stand der mächtige Schweizer Bahnbaron Alfred Escher aus Zürich, der sich gegen die Bündner Lobby durchsetzte, die eine weiter östlich liegende Alpenverbindung propagierte. Die Finanzierung erfolgte aus Staatsmitteln Italiens, Deutschlands und der Schweiz sowie zu einem kleineren Teil von privaten Investoren. Die Mehrzahl der über 2000 Arbeiter stammte aus Italien. Ihre Arbeitsbedingungen waren schlecht, und als sie 1875 in Göschenen in den Streik traten, schoss eine Urner Miliz in die Menge und tötete vier Menschen. Technische Komplikationen und fachliche Überforderung der Verantwortlichen führten zu Verzögerungen. Die Vollendung des Projekts gelang, weil neben der Eidgenossenschaft auch Italien und Deutschland zu weiteren Zahlungen bereit erklärten. 2016 soll ein neuer, 57 Kilometer langer Tunnel, der im Rahmen der Neuen Europäischen Alpentransversale gebaute Gotthard-Basistunnel, eröffnet werden. Er wird die Bahnfahrt von Zürich nach Mailand auf unter drei Stunden verkürzen.