Wolfgang Koeppens Zürich
«Die Straßen waren voll Licht und Leben. Ich bin reich, sagte die Fremdenstadt. Wer ankam, sollte es wissen. Die Straße vom Bahnhof fort war eine Verkündigung. Im Krieg war die Stadt neutral geblieben, von Granaten und Krisen unerschüttert, von Reparationen, Kriegsschulden und Inflationen verschont, standen ihre Banken wie feste Burgen da. (…) Juweliere, Schneider, Ledersachen aus Krokodil, Schlangen und Büffelfell und zarte Tageslichtlampenscheine über Lyoner Seide. Friedrich bemerkte dies, in seinem Wagen schwimmend wie in einem Kahn, während die Signale riesiger, schwarzlackiger, kräftig brummender Limousinen wie Schiffssirenen ihn umheulten, und hatte, als der Wagen abbiegen wollte in eine Nebenstraße, wieder den Zweifel, die Angst, ob es klug gehandelt sein würde, im Heiligen Petrus neben dem Zimmer Sibylles zu mieten.»
Geplant hat Friedrich eine Reise von Deutschland nach Italien, doch ist dies nur ein Vorwand, denn vor allem will er den vorgeblichen Zwischenstopp in der Schweiz längstmöglich ausdehnen. Grund dafür ist die im Zitat genannte Sibylle. Sie arbeitet in der «Fremdenstadt» als Kabarett-Tänzerin. Dass es sich beim Schauplatz um Zürich handeln muss, legt schon der Umstand nahe, dass die Stadt an einem See liegt. Und von den Schweizer See-Städten verfügt keine andere über eine annähernd so beeindruckende Bahnhofstrasse wie eben Zürich, wo einem damals wie heute gleich beim Verlassen des Bahnhofs sehr deutlich wird, dass man sich auf teures Pflaster begibt.
Den endgültigen Beweis liefert aber die enge Verstrickung von Roman und Autorenbiografie. Wolfgang Koeppen (1906-1996) versuchte ab 1933 mit Sybille Schloss (man merke: Sibylle im Roman, Sybille in der Realität) anzubandeln, einem umschwärmten Mitglied der «Pfeffermühle». Für dieses Kabarett, das Erika Mann in München gegründet hatte, arbeitete Koeppen als Texter. Die «Pfeffermühle» wurde in Deutschland nach wenigen Wochen verboten und die Truppe fand, wie damals viele Künstler und Intellektuelle, in Zürich Exil. Koeppen reiste der «Pfeffermühle» – oder eben eher Sybille – 1934 ins Schweizer Exil nach. Er war achtundzwanzig Jahre alt und im Herzen versengt durch das Wechselbad von Lockungen und Zurückweisungen durch Sybille.
Mittellos kommt Friedrich in Zürich an und mit dem Mut der Verzweiflung steigt er in «dem grossen Hotel am See» ab. Zürich durch den Filter einen unglücklichen Liebe, «stets bei Nacht und Nebel und in jenem körnigen Schwarzweissgrau, das wir, untermalt von expressionistischem Pathos, aus Stummfilmen kennen. Kurz, eine Stadt, die vor allem eins nahelegt: 'gleich in den See zu gehen'», schreibt ein NZZ-Feuilletonist auf Spurensuche.
Koeppen/Friedrich, diese «Amokläufer der Liebe» sind nicht zimperlich: «'Ich werde dich vergewaltigen. (. . .) Ich werde aber deinem Willen eine gerechte Chance geben, sich materiell, Gewalt gegen Gewalt, zu behaupten. Hier ist eine Waffe. In ihrem Lauf stecken zwölf Schüsse. Ich löse die Sicherung, und ich gebe sie dir. Du kannst dich, und ich wünsche es, gegen meinen Angriff verteidigen. Wenn du mich erschiesst, ist das Recht auf deiner Seite (. . .).' Er reichte ihr die Waffe. (. . .) 'Wenn sie doch schiessen würde', dachte Friedrich, 'würde sie doch schiessen'.» In einem Interview bestätigte die damals 92-jährige Sybille Schloss, dass sich alles genau so zugetragen habe wie im Roman, «genau so». (NP)
Zürich ist mit rund 400'000 Einwohnern die grösste und mächtigste Stadt der Schweiz. Die grössten Banken und Versicherungen haben ihren Sitz hier, die Börse SIX (Swiss Exchange), die internationalen Organisation von Fussball (FIFA) und Eishockey (IIHF), die wichtigsten Industrieverbände. Wie in anderen Schweizer Städten, liegt der Anteil ausländischer Einwohner bei über 30 Prozent. Zürich versteht sich als internationale Grosstadt und wirbt als «Erlebnismetropole am Wasser» mit einem bunten Nachtleben und über 50 Museen. Zürich war eine treibende Kraft bei der Entstehung der modernen Schweiz. Im 19. Jahrhunderts war es Zufluchtsort deutscher Liberaler und das Zentrum der wirtschaftlich-politischen Elite («Zürcher Freisinn»), später wiederholt Brenn- und Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen. Eine spezielle Zürcher Tradition ist das «Sechseläuten» im April, ein Umzug der kostümierten Zunftmitglieder (ausschliesslich Männer – Frauen stehen am Strassenrand) und das abschliessende Verbrennen des «Böögg», der den Winter personifiziert. Anfang August zieht die «Street Parade» mit House und Techno eine Million Feiernde in die Stadt.