W. G. Sebalds Grammont
«Es war ein ähnlich ungetrübter Tag wie seinerzeit, und als ich, nahezu restlos erschöpft, den Gipfel erreicht hatte, da sah ich von dort droben von neuem die Genferseelandschaft vor mir, vollkommen unverändert, wie es den Anschein hatte, und reglos bis auf die wenigen aus dem tiefblauen Wasser drunten mit der unglaublichsten Langsamkeit ihre weiße Spur ziehenden winzigen Schiffchen und bis auf die am jenseitigen Ufer in gewissen Abständen hin- und herfahrenden Eisenbahnzüge. Diese ebenso nahe wie unerreichbar in die Ferne gerückte Welt, sagte Aurach, habe mit solcher Macht ihn angezogen, daß er befürchtete, sich in sie hineinstürzen zu müssen, und dies vielleicht tatsächlich getan hätte, wäre nicht auf einmal – like someone who’s popped out of the bloody ground – ein um die sechzig Jahre alter Mensch mit einem großen Schmetterlingsnetz aus weißer Gaze vor ihm gestanden und hätte in einem ebenso vornehmen wie letztlich unidentifizierbarem Englisch gesagt, es sei jetzt an der Zeit, an den Abstieg zu denken, wenn man in Montreux noch zum Nachtmahl zurechtkommen wolle.»
In «Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen» schildert W. G. Sebald die Lebens- und Leidensgeschichten von Juden, die aus ihrer europäischen Heimat vertrieben worden sind. Dem Thema angemessen, durchzieht ein Grundton von Trauer und Melancholie die fiktiven Schicksale, denn die Figuren befinden sich immer haarscharf am Rande der (eigenen) Auslöschung. In der Erzählung «Max Aurach» erinnert sich ein Maler an zwei Bergtouren auf den 2172 Meter hohen Grammont im Wallis. Die erste hat er 1936 als Kind unternommen: «An einem blauen Augusttag bin ich neben dem Vater auf diesem Gipfel gelegen die ganze Mittagszeit über und habe mit ihm hinabgesehen auf den um vieles noch blaueren See, auf das Land jenseits des Sees bis hinüber zu den Höhenzügen des Jura, auf die hellen Städte am anderen Ufer und das unmittelbar vor uns in einer Schattentiefe von vielleicht eineinhalbtausend Metern kaum zu erkennende St. Gingolph.»
Jahrzehnte später ist er nochmals alleine unterwegs (Zitat). Die leuchtende Genferseelandschaft (in der dann auch noch eine Literaturberühmtheit auftaucht, nämlich Vladimir Nabokov mit dem Schmetterlingsnetz) scheint in der Erinnerung nur kurz auf und steht in Kontrast zur düsteren, verfallenden Industriestadt Manchester, dem eigentlichen Schauplatz der Erzählung.
W. G. Sebald, geboren 1944 in Wertach im Allgäu, lebte seit 1970 im ostenglischen Norwich, wo er als Dozent für Neuere Deutsche Literatur an der Universität lehrte. 2001 starb W. G. Sebald bei einem Autounfall. Seine Veröffentlichungen haben ihn zu einer unverwechselbaren Stimme der Gegenwartsliteratur werden lassen, die Feuilleton-Kritik feierte den typischen «Sebald-Sound» oft hymnisch. Wer sich für das Thema «Sebald und die Schweiz» interessiert, sei hier noch auf einen anderen, ganz wunderbaren Text verwiesen: «Logis in einem Landhaus», ein Essay, in dem Sebald auf den Spuren von Jean-Jacques Rousseau auf der St. Petersinsel im Bielersee wandelt. (BP)
Der Grammont (links im Bild), wegen seiner markanten Silhouette auch als Bildmotiv bekannt, zum Beispiel durch Ferdinand Hodler, liegt in einer herrlichen Umgebung zwischen Seen und Moorlandschaften. Selbst wer ihn nicht besteigen mag, findet am Fuss des Bergmassivs zahlreiche Möglichkeiten zum Wandern: Etwa den Bilderbuchsee Lac de Taney oder die wilde Schönheit des Naturreservates Les Grangettes.