Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Urs Widmers Neuenburger Jura

Schauplatz

«Wir stehen auf und sehen uns um. Was für eine todeinsame Gegend! Die Ballonhülle liegt schlapp im Schnee. Wir untersuchen sie. ‹Die werden wir so schnell nicht wieder flottkriegen›, murmelt der Pilot. Schon beginnen sich an der Gondel und an der Hülle die ersten Schneeverwehungen zu bilden. Wir dürfen hier nicht bleiben, auch ist es schon ziemlich dämmrig, obwohl es erst vier Uhr ist. Um uns herum stehen schwarze Tannen wie drohende Waldmänner, stumm, ächzend. Wir packen unsre Rucksäcke, das heißt, ich den Skirucksack, die dicke Frau den Büdel und der Pilot den Tornister. Wir haben eine Taschenapotheke, etwas Trockenfleisch und Zwieback und eine Flasche Himbeergeist bei uns, aber in einer Schneehöhle übernachten möchte ich mit dieser Ausrüstung nicht. ‹In welche Richtung gehen wir?› frage ich den Piloten. Dieser schaut sich um, von Horizont zu Horizont. Alles sieht gleich aus: weiß, hügelig, weit, einsam, von dunklen Wäldern begrenzt. Der Wind heult.»

Urs Widmer: Schweizer Geschichten (1975) 

Zu Erzählung und Autor

Urs Widmer (geb. 1938) hat sechzehn Jahre in Frankfurt gelebt – als Lektor bei Suhrkamp, Rezensent bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und Universitätsdozent. Seit 1984 lebt er wieder in der Schweiz.  Die herrlichen «Schweizer Geschichten» sind noch während der Frankfurter Jahre entstanden, mit einer gewissen Distanz zum Herkunftsland. Eigentlich hatte Widmer vor, zu jedem Schweizer Kanton eine Geschichte zu verfassen, aber dann, so schreibt er im Nachwort, «merkte ich, dass ich das nicht kann. Selbst die kleine Schweiz ist zu groß für einen Menschen.» 13 Geschichten sind es dann geworden. «Ich habe versucht, Geschichten zu schreiben, in denen es sozusagen nach Schweiz riecht, nach ihren unverwechselbaren, von Kanton zu Kanton, von Ort zu Ort verschiedenen Eigenschaften. In der Schweiz sind zehn Kilometer schon eine große Distanz. Ich glaube, daß meine Geschichte aus Solothurn nur in Solothurn möglich und daß die aus dem Neuenburger Jura nicht ins Wallis übertragbar ist. Ich hoffe es zum mindesten.»
Drei Freunde unternehmen eine Ballonfahrt von Frankfurt Flughafen in die Schweiz. Sie erleben Merkwürdiges, Kurioses, Beglückendes und Befremdliches: Zum Auftakt landen sie mitten auf einem Fussballfeld, auf dem – wie könnte es gerade anders sein – der Basler gegen den Zürcher Fussballclub antritt. Sie strampeln auf Fahrrädern über den Gotthard, treffen Rekruten auf dem langen Marsch und begegnen möglicherweise Frankensteins Kreatur am Genfersee. Und sie müssen (Zitat) eine Notlandung im Neuenburger Jura vornehmen… Die Ballonfahrer werden gerettet. Ein Schulhaus bietet Unterschlupf, eine ebenso hübsche wie gastfreundliche Lehrerin serviert den Verfrorenen ein Fondue. Kurz kommt auch noch der Vater der Lehrerin zu Besuch, «riesengroß, wie ein Grizzly» und mit geschulterter Axt. «Durch hundertausend Stürme ist er schon gegangen, mit Baumstämmen auf dem Rücken, singend», sagt die junge Frau stolz. Das Gebiet, auch als «Schweizerisches Sibirien» bekannt, fordert bei Widmer prompt einen Toten. Am Morgen danach liegt der bärenhafte Vater steifgefroren im Schnee. Die Tochter «streichelt sein schneeiges Gesicht. Dann fängt sie an, ihn mit Schnee zuzuschaufeln, mit den Händen.» (BP)

Zum Ort

Die Neuenburger Geschichte spielt vermutlich im Hochtal von La Brévine, vieles spricht dafür. Das Vallée de la Brévine liegt auf 1'043 Metern über Meer, westlich der Kantonshauptstadt Neuenburg. Im Winter werden im komplett abgeschlossenen Vallée de la Brévine – klarer Himmel und wenig bis kein Wind sorgen für maximales Auskühlen des Bodens —  nicht selten Temperaturen von −30 °C erreicht, was dem Ort den Namen «Sibirien der Schweiz» eintrug. An der Messstation La Brévine wurde am 12. Januar 1987 mit −41.8 °C die tiefste je an einer offiziellen Station gemessene Temperatur der Schweiz registriert.