Thomas Lehrs CERN
«Du hast überlebt. Punkt eins. Du bist fast nicht allein. Punkt zwei. Wieder einmal traf es die anderen. Punkt drei. Dein Hörschaden ist rätselhaft, aber man wird schon sehen. Und was siehst du? Vielleicht gibt es Störungen zwischen Augen und Gehirn, die dir manche Leute normal, andere hingegen wie eingefroren erscheinen lassen, auch wenn sie nur eine Armlänge voneinander entfernt sind. Die ersten überschreiten die Grenze: Es ist keine Fotografie, es ist ein Skulpturengarten, montiert auf der Betonfläche des PA 8. Die Busfahrer. Die Polizisten. Der noch immer über der Kabeltrommel schwebende Techniker. Lebende Statuen oder Statuen von lebendigen Menschen in Originalgröße und vor ihnen und bald schon um sie herum sind wir, als sich bewegende Zuschauer, wie Museumsbesucher, denen die Kunst, mit der das Leben hier authentisch festgehalten wurde, fast die Sprache raubt (weiterhin verstümmelte Sätze und Wortfetzen: 'Um Himmels … Wahns … Seht doch! … Zeitlupe! Oder? Die …'). Marcel und seine Schwester haben die Polizisten auf den Motorrädern schon erreicht und ungläubig berührt. Ich gehe auf Boris und Anna zu, benommen, verlangsamt, mit wohl lächerlichen Schwimmbewegungen. Die Luft scheint mir so schwer geworden und dort, wo die Busfahrer regungslos verharrren, schon hart wie Glas.»
Ein detailversessener Wissenschaftsthriller: Etwas ausserhalb von Genf liegen die unterirdischen Anlagen des Kernforschungszentrums CERN. Als eine Besuchergruppe am 14. August 2000 um 12 Uhr 47 und 42 Sekunden (daher der Romantitel) aus dem Aufzug wieder ans Tageslicht tritt, hat sich die Welt verändert: Es herrscht «Nullzeit», genauer: der Teilchenbeschleuniger hat offenbar einen Riss im Zeitkontinuum verursacht. Die siebzig überlebenden «Chronifizierten» bewegen sich fortan in Zeitblasen wie in einer dreidimensionalen «Fotografie der Welt».
In einer Art Schockzustand erkundet die Gruppe die nähere Umgebung: «Entlang der Kais und Promenaden gingen wir zum als Treffpunkt vereinbarten Bahnhof Cornavin zurück wie am Rand eines plan geschliffenen riesigen Gletschers. Der Ausflugsdampfer RHÔNE steckte mit Dutzenden auf dem Deck gefrorener Touristen darin wie ein fröhliches Totenschiff (...). Wir sahen die Leute in den Freibädern, auf der Wasserfläche verteilt wie anatomische Präparate. Wir sahen einen Turmspringer, der sich hoch in der Luft in einer unsichtbaren Hängematte verwickelt hatte.»
Bildstark und teilweise ins Surreale abdriftend erzählt Thomas Lehr (geb. 1957), selbst ausgebildeter Biochemiker, vom Überlebenskampf dieser «Chronifizierten» in einer erstarrten Welt. In einer literarischen Versuchsanordnung wird das Physikalische und das Poetische in einer bisher ungewohnten Art und Weise verknüpft. «Alles, was in diesem Roman über das CERN und seine Ausgangsbedingungen gesagt wird, ist fundiert und entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten. Doch dann entwickelt sich eine Handlung, die märchenhaft anmutet, naturwissenschaftlich nicht mehr erklärbar ist und dennoch eine verwirrende, in sich geschlossene Logik aufweist», lobt ZEIT-Kritiker Helmut Bötiger. (BP)
Das Wahrzeichen von Genf ist der «Jet d’Eau», ein 140 Meter hoher Springbrunnen am Ufer des Genfersees (französisch: Lac Léman), aber den weltweiten Ruf hat die Calvinstadt als Sitz von über zwei Dutzend internationaler Organisationen. Eine davon ist europäische Kernforschungszentrum CERN («Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire», 21 Mitgliedstaaten, rund 3200 Mitarbeiter). Dort wird der Aufbau der Materie ergründet, seit 2008 im «Large Hadron Collider», dem grössten Teilchenbeschleuniger der Welt. Er enthält 9300 Magnete, die mit flüssigem Helium auf eine Betriebstemperatur von -271,25 Grad Celsius gekühlt werden.