Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Melinda Nadj Abonjis Wohlgroth-Areal

Schauplatz

«Wohlgroth, so heisst unser Ort, eine ehemalige Fabrik, die jetzt besetzt ist, wir gehen auf den Häuserkomplex zu, vor dem sich Müllsäcke türmen, besprayte Container, die überquellen, Fahrräder, die kreuz und quer rumstehen, schon viel los, sagt Nomi, die Aussenwände sind bemalt, verschmiert, sagen die einen, Farbkleckse, Striche und Figuren, Zeichen und Botschaften, und Nomi und ich, wir halten uns an den Händen, als seien wir ein Paar, man kennt uns, hallo, ihr beiden, ruft Suhansky, seine Augen stehen schon schief, na, wie steht's, wie geht's? und selber?, und im Innenhof brennt ein Feuer, Hunde, die ums Feuer rennen, andauernd die Richtung wechseln, heulen, was ist denn hier los? ach so, ah ja, ein heidnisches Frühlingsfeuer, und Nomi und ich, wir bleiben einen Moment lang stehen, sehen den Hunden zu, wie sie immer wilder werden, als jemand noch einen halben Stuhl ins Feuer wirft, kaputtes Kinderspielzeug, irgendwelchen Müll, Zeitungen, Zeitungen, einen ganzen Stoss voll, verdammte Lügner, diese Journis!, schreit Suhansky, halt die Klappe, ruft ein anderer, der seinen Hund zu beruhigen versucht (...).»

Meldina Nadj Abonji: Tauben fliegen auf (2010)

© KEYSTONE
Zu Roman und Autorin

Zwei Heimaten: Die junge Erzählerin Ildikó Kocsis erzählt Geschichten aus dem Grossraum Zürich und im Wechsel damit Anekdoten aus der Vojvodina. In der Schweiz hat die Familie Koscis ihr Glück gefunden. 1993 eröffnet sie in ihrem Dorf ein eigenes Café, ein mehr als verdienter Erfolg für die Eltern Rosza und Miklós, die sich mit viel Kraft, Geduld, aber auch Demut ein Leben im fremden Land aufgebaut haben. Die beiden Töchter Nomi und Ildikó sind im Betrieb eingespannt, doch verlangen sie, verständlicherweise, auch nach eigenen Freiräumen und Freiheiten. Sie wollen nicht länger «Ausländerinnen» sein. Zu einem wichtigen Ort wird für sie das besetzte Wohlgroth-Areal, das den beiden jungen Frau eine Fülle von Erfahrungen bietet.
2010 hat die schweizerisch-ungarische Autorin für «Tauben fliegen auf» sowohl den Deutschen Buchpreis als auch den Schweizer Buchpreis erhalten. Die virtuos erzählte Geschichte eines Pendelns zwischen zwei Welten hat Kritiker, Jurys und Lesepublikum gleichermassen überzeugt und begeistert. Nicht zuletzt, weil das Buch die Härte zeigt, die auch einer nach unseren Maßstäben erfolgreichen Integration innewohnt. Melinda Nadj Abonji wurde 1968 als Tochter ungarischer Serben in der Provinz Vojvodina geboren. 1973 zog sie mit ihrer Familie in die Schweiz. Sie studierte in Zürich Deutsch und Geschichte und arbeitet heute als Autorin, Musikerin, Textperformerin und Dozentin. (BP)

Zum Ort

Mit dem Namen «Wohlgroth» ist die grösste und längste Hausbesetzer-Geschichte der Schweiz verbunden. Ab Pfingsten 1991 haben sich auf dem Areal der ehemaligen Gaszählerfabrik Wohlgroth im Kreis 5, in unmittelbarer Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs, verschiedene Gruppen eingerichtet. Die Besetzung war auch gegen die neuen Besitzer des Areals gerichtet: Die Firma Oerlikon-Bührle AG. In der Folge sind die Fabrikgebäude und -hallen bewohnbar gemacht und ein reger Kulturbetrieb auf die Beine gestellt worden. Die Wohlgroth-Gemeinschaft wuchs und wuchs und beherbergte zuletzt über 100 Menschen. Zweieinhalb Jahre später war Schluss: Die Wohlgroth wurde geräumt, mit einem polizeilichen Grossaufgebot, Helikoptern und Feuerwehrleitern.