Meinrad Inglins Güldramont
«Ich fragte meine Tante, wie groß dieses Waldland sei, und sie wusste es nicht, sie warnte mich nur davor. Ich fragte meinen Onkel, was hinter den Wäldern liege, und er wich mir aus. Ich ging ein Stück weit in den Wald hinein und sah, dass es ein Urwald ist, und dachte, dass er der Anfang eines kaum erforschten Gebietes sei. Aus der Karte kann man nichts Genaueres herauslesen, man sieht nur, was mir auch unsere Verwandten sagten, dass da hinten keine Wege mehr sind und keine Menschen mehr wohnen. Es ist möglich, dass es dort Eingeborene gibt, aber sie sind nicht von unserer Art. Wie groß das Gebiet ist und wie es heißt, weiß ich nicht. Wir nennen es Güldramont, und wir sind mit dem Gedanken aufgebrochen, in dieses Gebiet vorzudringen.»
Terra Incognita in der Innerschweiz: Eine Gruppe von Knaben macht sich, ohne Begleitung von Erwachsenen, auf zu einer mehrtägigen Wanderung durch die Wälder. Ziel ist ein noch unerschlossenes, unvermessenes Land mit dem verheissungsvollen Namen «Güldramont». Dieser Aufbruch in die Wildnis, die pure Abenteuerlust lässt die jungen Wandernden die Landschaft mit allen Sinnen wahrnehmen. Sie sind empfänglich für Sagen, Mythen, merkwürdige Gesteinsformationen und Nebelerscheinungen. Als sie am Ende in die Zivilisation zurückkehren, sind sie andere geworden.
Wie muss Meinrad Inglin, der zweifellos zu den bedeutendsten Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts zählt, diese Landschaft geliebt haben! Nicht nur die sieben Knaben, sondern Dutzende seiner Figuren aus seinem umfangreichen Werk bewegen sich in der voralpinen Landschaft rund um Schwyz. 1893 in Schwyz geboren und 1971 ebendort gestorben, hat er den grössten Teil seines Lebens in diesem Dorf am Fusse der Mythen verbracht, nur unterbrochen von einigen eher halbherzigen Ausbruchsversuchen (nach Zürich, nach Bern, sogar nach Berlin). Er ist ein Kenner der Innerschweiz, durch und durch: «Inglins Seelenort (…) ist die Natur der Voralpen mit ihren Härten und Kanten und mit ihren paradiesischen Erlösungskräften. Über die eigene Landschaft vom Stanserhorn bis zu den Mythen, vom Pilatus bis zum Uri Rotstock habe ich nirgends so viel erfahren wie bei ihm». So erweist ihm seine Biografin, Beatrice von Matt, die Reverenz. (BP)
Wie in vielen seiner Texte vermeidet Inglin eine präzise Lokalisierung, aber jede Zeile atmet, wenn man so will, Innerschweiz. Das sagenhafte Land «Güldramont», das seiner Vermessung erst noch harrt, mit seinem «Grossen Wald», der urtümlich-archaischen Gerölllandschaft und den Kalksteingebilden könnte auf der Höhe des Bödmerenwaldes und des Pragelpasses liegen: «Sie erreichten den Waldrand dort, wo der Holzweg mündete, und zogen hintereinander klopfenden Herzens in die grüne Dämmerung hinein.» Dieser letzte Urwald der Schweiz, 150 Hektar unberührter Fichtenwald, ist unter Schutz gestellt. Sein Besuch ist ein Erlebnis, das man nicht vergessen wird.