Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Lukas Hartmanns «Tannwiler»

Schauplatz

«‹Lügen Sie nicht!›, sagte Christian scharf und trat einen Schritt auf sie zu. ‹Es könnte ja sein, dass Sie am 20. April 1889 Geburtstag haben, oder nicht?›
Görres stutzte und gab einen seltsamen Laut von sich, der ebenso gut ein Aufschluchzen wie ein unglückliches Lachen sein konnte. ‹Am 20. April? Das ist Führers Geburtstag, mein Lieber. So ungefähr das schlimmste Datum der neueren Geschichte. Was meinst Du damit? Was unterstellst Du mir?›
Christian war noch näher getreten, kauerte vor Görres nieder und starrte sie finster an: ‹Dass Sie in Braunau geboren sind, meine ich. Dass Ihr Vater ursprünglich Schicklgruber hieß. Geben Sie's zu!›»

Lukas Hartmann: Die Deutsche im Dorf (2005)

© KEYSTONE
Zu Buch und Autor

Dass die Geschichte böse endet, wird schon beim Lesen der allerersten Zeilen klar: «Vor vielen Jahren, als ich noch ein halbes Kind war, haben wir zu dritt einen Menschen in den Tod getrieben. Das hat mein Leben überschattet, ohne dass ich es wusste; geahnt habe ich es freilich schon lange. Erst im vergangenen November wurde mir klar, was damals, 1967, geschah.» Was folgt, ist die Rekonstruktion der Ereignisse in besagtem Jahr. Als eine alte, merkwürdig abstossende, doch irgendwie faszinierende Frau im erfundenen Emmentaler Dörfchen «Tannwiler» auftaucht, liegt das Unheil schon in der Luft. Die Jugendlichen steigern sich in den wahnwitzigen Verdacht, die alte Görres sei keine Frau, sondern ein Mann, und zwar der untergetauchte Adolf Hitler. Eines Nachts wenden sie Gewalt an und verhören die Görres im Wald. Der unschuldige Transvestit erleidet schwere Verletzungen, kann sich zwar noch wegschleppen, stirbt aber wenige Tage später an einer Gehirnblutung.
Lukas Hartmann (geb. 1944) arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Medienberater und lebt in der Nähe von Bern. (BP)

Zum Ort

Das Bild zeigt stellvertretend die Gegend um Lauperswil im Emmental, aber Tannwiler existiert nicht. Man kann es nur lesend besuchen. Das erfundene Emmentaler Dörfchen liegt in einem Hügelgebiet, «wo die schrundige Landschaft allmählich sanfter wird. Der Dorfkern besteht aus wenigen Häusern, die sich auf einem Plateau zusammendrängen. An der Strassengabelung stehen die beiden grössten Gebäude einander schräg gegenüber: das Schulhaus mit dem Türmchen und die Wirtschaft mit dem Ochsen auf dem Schild.» Ferner gibt es noch einen Friedhof (von einer Kirche ist hingegen nicht die Rede), eine Poststelle, natürlich eine Käserei und einen Lebensmittelladen. Geschätzte Einwohnerzahl: nicht mehr als dreihundert.