Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
Logo Präsenz Schweiz

Klaus Manns Zürich

Schauplatz

«Zürich strahlt. In diesen besonnten Juni-Wochen meinte man, hier nur glückliche Menschen zu sehen; die Unglücklichen zeigten sich nicht. Die Badeanstalten am See waren überfüllt, wie die eleganten Konditoreien, die Hotel-Terrassen, die Cafés, die populären Biergärten. Wohin man schaute ‒ braungebrannte, lachende Gesichter. Junge Leute gingen in Nagelschuhen und Leinenhosen umher, schwer beladen mit ihrem Rucksack und doch leichten Schrittes; sie kamen von Bergtouren, oder sie brachen gerade zu Exkursionen auf. Bei ‹Sprüngli› oder bei ‹Huegenin›, an der Bahnhofstraße, saßen die Mädchen und ihre Burschen in weißen Segelkostümen neben alten Amerikanerinnen. Im Garten des Hotels ‹Baur au Lac› schmachtete die Zigeunerkapelle ihre Nachmittags-Musik; auf dem Paradeplatz klingelten munter die hübsch blau lackierten Trambahnwagen; die großen Limousinen aber glitten in vornehmer Stille über die Avenuen, Plätze, Brücken und Quais...»

Klaus Mann: Der Vulkan (1939)

© KEYSTONE
Zu Buch und Autor

«Der Vulkan» ist gespickt mit Wahrzeichen Zürichs: Paradeplatz (unser Bild zeigt eine Aufnahme von 1936), Bahnhofstrasse, Schauspielhaus, Hotel Baur au Lac. Dort spielt sich das öffentliche Leben ab, auch jenes der Emigranten, die in Klaus Manns Roman die Hauptrolle spielen. Doch hinter all dieser blendenden Pracht liegt eine Schattenwelt. In einem trostlosen Hotelzimmer geben sich die hübsche Tilly und der Flüchtling Ernst einander hin – es sind zwei an Körper und Seele Ausgehungerte, die miteinander die Nacht verbringen. Das Begehren und die Einsamkeit, die durch den Sex nicht schwindet (im Gegenteil), schildert Klaus Mann so einprägsam, dass man die Szene, einmal gelesen, nicht so schnell wieder vergisst.
Die Orte dieser privaten Tragödien bleiben namenlos und unlokalisierbar. Das schäbige Hotelzimmer, in dem Tilly und Ernst ihre erste und einzige Liebesnacht verbringen, die Praxis, in der Tilly abtreiben lässt, das Sanatorium, in dem Martin, eine andere Hauptfigur, einen Heroinentzug durchstehen soll, und noch einmal dasselbe Hotelzimmer, das Tilly zum zweiten Mal bezieht, um sich mit einer Überdosis Veronal umzubringen –  sie sind auf keinem Stadtplan zu finden.
Der hochbegabte, aber zeitlebens innerlich zerrissene Klaus Mann emigrierte unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. In seinem Roman verschmilzt Autobiografisches mit Fiktionalem. Es ist der Versuch, die seelische Verfassung der wider Willen Entwurzelten darzustellen – in einer Fülle von Einzelschicksalen.
Mann kannte Zürich wie auch die anderen «Vulkan»-Schauplätze – Berlin, Paris, Prag, Amsterdam und New York – aus eigener Exilerfahrung. 1938 war er für eine Heroinentziehungskur ein letztes Mal in Zürich, im selben Jahr emigrierte er in die USA. Aus dem Exil engagierte er sich sowohl publizistsich wie in offiziellen Ämtern im Kampf gegen die Nationalsozialisten, ja, er trat in die US Army ein und verhörte als Mitglied der allierten Truppen deutsche Kriegsgefangene. In der Welt ab 1945 fand er sich noch weniger zurecht als zuvor. Nach mehreren Suizidversuchen starb er 1949 in Cannes an einer Überdosis Schlaftabletten. (BP)

Zum Ort

Zürich ist mit rund 400'000 Einwohnern die grösste und mächtigste Stadt der Schweiz. Die grössten Banken und Versicherungen haben ihren Sitz hier, die Börse SIX (Swiss Exchange), die internationalen Organisation von Fussball (FIFA) und Eishockey (IIHF), die wichtigsten Industrieverbände. Wie in anderen Schweizer Städten, liegt der Anteil ausländischer Einwohner bei über 30 Prozent. Zürich versteht sich als internationale Grosstadt und wirbt als «Erlebnismetropole am Wasser» mit einem bunten Nachtleben und über 50 Museen. Zürich war eine treibende Kraft bei der Entstehung der modernen Schweiz. Im 19. Jahrhunderts war es Zufluchtsort deutscher Liberaler und das Zentrum der wirtschaftlich-politischen Elite («Zürcher Freisinn»), später wiederholt Brenn- und Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen. Eine spezielle Zürcher Tradition ist das «Sechseläuten» im April, ein Umzug der kostümierten Zunftmitglieder (ausschliesslich Männer – Frauen stehen am Strassenrand) und das abschliessende Verbrennen des «Böögg», der den Winter personifiziert. Anfang August zieht die «Street Parade» mit House und Techno eine Million Feiernde in die Stadt.