Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Karl Kraus' Fextal

Schauplatz

«Als deine Sonne meinen Schnee beschien,
ein Sonntag wars im blauen Engadin.

Der Winter glühte und der Frost war heiß,
unendlich sprühten Funken aus dem Eis.

Knirschend ergab sich alle Gegenwart,
Licht tanzte zur Musik der Schlittenfahrt.

Wir fuhren jenseits aller Jahreszeit
irgendwohin in die Vergangenheit.

Was rauh begonnen war, verlief uns hold,
ein Tag von Silber dankt dem Strahl von Gold.

Der Zauber führt in ein versunknes Reich.
Wie bettet Kindertraum das Leben weich!

Voll alter Spiele ist das weiße Tal;
die Berge sammeln wir wie Bergkristall.

Trennt heut die Elemente keine Kluft?
Ein Feuerfluß verbindet Erd’ und Luft.

Wir leben anders. Wenns so weiter geht,
ist dies hier schon der andere Planet!»

Karl Kraus: Fahrt ins Fextal (29. Januar 1916, Auszüge)

© Hotel Fex
Zu Gedicht und Autor

Karl Kraus’ Gedicht «Fahrt ins Fextal» darf in keiner Engadin-Anthologie fehlen. Was sich auf den ersten Blick als Hymne auf die Fextaler Winterlandschaft liest, gehört bei näherem Hinsehen zu der literarischen Maskerade, mit der Karl Kraus, «mit heißem Herzen und Hirne» um Sidonie Nádherný von Borutin warb. Die böhmische Adelsdame war bei ihrer ersten Begegnung 1913 in einem Wiener Café siebenundzwanzig Jahre  alt – und siebenundzwanzig weitere Jahre verdrehte sie Kraus den Kopf: «Oh Sidi!» – «Meine Braut vor Gott!» – «Du Heilige», «Herrliche» und «Theuerste!» – «Beglückerin Du! Vernichterin! Erretterin!» – «Ich hätte nie geglaubt, daß es so über mich noch hereinbrechen kann.» – «Ich bin von Deinem Fieber geschüttelt.» – «Ich glühe von Denken und Liebe.» «Ich verbrenne.»
Der berühmte Satiriker und unerbittliche Sprachkritiker, so zeigen die 1065 Briefe, Postkarten und Telegramme an Sidonie, war zugleich ein ekstatischer, zerquälter, grossherziger Liebhaber – ganz alte Wiener Schule. Machmal verbrachte er Tage oder Wochen in Sidonies Chalet «Manim» in St. Moritz. Im Kriegsjahr 1915 schrieb er dort an seinem Riesenwerk «Die letzten Tage der Menschheit». Die «Fahrt ins Fextal» entstand nach einem mehrwöchigen Engadiner Aufenthalt zusammen mit Sidonie. Nach den Vergnügungen im Schnee las Kraus ihr allabendlich aus Shakespeares Werken vor. (BP)

 

Zum Ort

Das Val Fex ist mit 1800 bis fast 2000 m ü.M. eines der höchst gelegenen ganzjährig bewohnten Täler der Schweiz (rund hundert Einwohner). Das sechs Kilometer lange Seitental des Engadins ist ein verträumtes Paradies, in dem ein Fahrverbotund seit 1954 ein strenger Natur- und Landschaftsschutz gelten. Besucher werden vergeblich nach Stromleitungen, Skiliftanlagen, Kabinen- und Sesselliften suchen. Im Winter ist die Pferdeschlittenfahrt die schönste Anreiseoption – ganz so, wie von Karl Kraus beschrieben.