Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Hermann Hesses «Laguno»

Schauplatz

«Glücklich sass Klingsor, ruhte, sah in die Nacht, füllte sich langsam mit Schwarzbrot, leerte still die bläulichen Tassen mit Wein. Gesättigt fing er wieder zu plaudern und zu singen an, schaukelte sich im Takt der Lieder, spielte mit den Frauen, witterte im Duft ihrer Haare. Der Wein schien ihm gut. Alter Verführer, redete er leicht die Vorschläge zum Weitergehen nieder, trank Wein, schenkte Wein ein, stiess zärtlich an, liess neuen Wein kommen. Langsam stiegen aus den irdenen bläulichen Tassen, Sinnbild der Vergänglichkeit, die bunten Zauber, wandelten die Welt, färbten Stein und Licht.
Hoch sassen sie in schwebender Schaukel überm Abgrund der Welt und Nacht, Vögel in goldenem Käfig, ohne Heimat, ohne Schwere, den Sternen gegenüber. Sie sangen, die Vögel, sangen exotische Lieder, sie phantasierten aus berauschten Herzen in die Nacht, in den Himmel, in den Wald, in das fragwürdige, bezauberte Weltall hinein. Antwort kam von Stern und Mond, von Baum und Gebirg, Goethe sass da und Hafis, heiss duftete Ägypten und innig Griechenland herauf, Mozart lächelte, Hugo Wolf spielte den Flügel in der irren Nacht.»

Hermann Hesse: Klingsors letzter Sommer (1919)

© swiss-image.ch/Christof Sonderegger
Zu Erzählung und Autor

Der Maler Klingsor, 42 Jahre alt, lebt in der Vorahnung seines unmittelbar bevorstehenden Todes. Geisteskrank glauben die einen, trunksüchtig vermuten die andern. Klingsor selbst verleugnet beides nicht und verbringt seinen letzten Sommer in ekstatischem Rausch zwischen Todesangst und Lebensgier hin- und hergerissen. Erotik steht ganz zuoberst auf dem Programm: «Er lag in einem Walde und hatte ein Weib mit rotem Haar auf seinem Schoß, und eine Schwarze lag an seiner Schulter, und eine andere kniete neben ihm, hielt seine Hand und küßte seine Finger, und überall und rundum waren Frauen und Mädchen, manche noch Kinder, mit dünnen hohen Beinen, manche in voller Blüte, manche reif und mit den Zeichen des Wissens und der Ermüdung in den zuckenden Gesichtern, und alle liebten ihn, und alle wollten von ihm geliebt sein».
Klingsor malt in jenen Wochen Bild um Bild in denselben satten und glühenden Farben, die auch später in Hesses Texten immer präsent sind: leuchtendes Orange, dunkles Violett, quellendes Grün. Der Protagonist schläft kaum, was seiner ohnehin prekären gesundheitlichen Verfassung nicht gerade zuträglich ist.
In der «gesegnete[n] Gegend am Südfuss der Alpen», in der Klingsor seine letzten (und Hesse seine ersten) Wochen verbringt, findet sich der Leser schnell zurecht – obschon die Stadt Lugano hier «Laguno» heisst, der Monte Generoso «Monte Gennaro« und das idyllische Dorf Carona «Kareno«. In Kareno spielt sich der Höhepunkt der Erzählung ab: Klingsor begegnet hier der «Königin der Gebirge» und verliebt sich in diese «schlank elastischer Blüte, straff, federnd, ganz in Rot, brennende Flamme, Bildnis der Jugend».
Ein Buch, durchtränkt von einem intensiven Lebensgefühl in der Hitze des Tessiner Sommers, vom Tode gejagt und vom Leben getrieben – ein Zustand, den der Autor mit seinem Protagonisten teilte: Im Jahr 1919 findet sich Hermann Hesse, bedingt durch den Ersten Weltkrieg, den Tod des Vaters, eine Ehekrise und die schwere Krankheit seines Sohnes, in einer tiefen psychischen Krise wieder. Um den bürgerlichen Zwängen in Bern zu entfliehen, siedelt der Dichter in den Süden der Schweiz über und findet im Tessin sein irdisches Paradies.
In Carona verliebte sich Hermann Hesse im Sommer 1919 in Ruth Wenger, die später seine zweite Frau werden sollte. Die farbenintensive mediterrane Landschaft habe ihn, so beschreibt er es im selben Jahr, «wie eine vorbestimmte Heimat angezogen und empfangen». Alsbald beginnt Hesse mit dem Schreiben von «Klingsors letzter Sommer». Die «vollste, üppigste, fleissigste und glühendste Zeit» seines Lebens sollte es rückblickend gewesen sein, hier im berühmten Casa Camuzzi in Montagnola, oberhalb des Luganer Sees. (AB)

Zum Ort

Die Stadt Lugano (bei Hesse «Laguno») mit ihren 60'000 Einwohnern liegt in der subalpinen Seenregion im südlichsten Zipfel der Schweiz und grenzt im Osten an die italienische Provinz Como. Die umliegenden Hügel und Berge bilden ein natürliches Amphitheater um die Stadt, die direkt am See liegt und über der auf der einen Seite der Monte Brè, auf der andern der Monte San Salvatore thront, beides wunderschöne Aussichtspunkte. Im Laufe der Zeit hat sich Lugano stark verändert. Das eher ländlich geprägte mittelalterliche Städtchen und Fischerdorf, das nebst der Fischerei auch Landwirtschaft betrieb, wurde im 19. Jahrhundert zum beliebten Reiseziel eines Elite-Tourismus mit Jugendstil-Flair. In den letzten Jahrzehnten sind neue städtebauliche und Projekte gefördert worden. Infolge der Gründung der Universität der Italienischen Schweiz konnten zahlreiche fachspezifische Forschungsinstitute in Lugano aufgenommen werden.