Heinrich Federers Pilatus
«Es wird so wild, daß man bald nur noch die schwarzen Bergschatten zu beiden Seiten und in einem höllischen Schlund etwas Weißes, Zorniges, Lärmendes sieht, den Bergfluß. (...) Wieder hatte es Agnes unheimlich werden wollen. ‹Hab’ ich dich jetzt? Hab’ ich dich jetzt?› schien ihr der Berg zu sagen und mit furchtbaren Armen nach ihr hinab zu greifen und sie härter und enge, fast zum Ersticken, zwischen seinen Knien, zusammenzupressen.»
Heinrich Federer: Pilatus (1911)
Ein Berg, auf dem es spukt. Ein Berg, dessen Gipfel in der Dämmerung wie ein düsteres, halbverfallenes Schloss wirkt, wenn man etwas Derartiges darin sehen will (und das wollen viele). Man sagt, der ruhelose Geist des Pontius Pilatus spuke dort oben. Und Drachen sollen feuerbeschweift Bahnen zwischen Pilatus und Rigi ziehen. Solche unheimlichen Erzählungen, gepaart mit dem düsteren Aussehen des Berges, machen wohl den Bann aus, in den viele geraten, die dem Pilatus zu nahe kommen.
Auch in Heinrich Federers Roman spielt der «graue alte Berg (...) die Hauptrolle», genauer: er wird zum übermächtigen Gegenspieler der Romanfiguren. Als Marx seine Jugendliebe, die zarte Agnes, heiratet, steht sie vom ersten Tag an in unablässiger Konkurrenz zum Pilatus: «‹Mußt nicht bös’ sein. Aber der Berg ist mein Freund, mein Bruder, mein liebster – ›» versucht Marx ihr zu erklären. «‹Aber ich habe doch nicht den Pilatus geheiratet›, stieß sie mit blauen Lippen hervor, ‹dich allein’ hab’ ich geheiratet!›» Am Ende wird der steinerne Koloss nicht weniger als vier Todesopfer gefordert haben. Sie stürzen in Tobel oder werden von Schlammlawinen erfasst und in die Tiefe gerissen.
Heinrich Federer (1866-1928) hatte kein leichtes Leben. Einst gehörte er zu den meist gelesenen Autoren im deutschsprachigen Raum, sein Ruhm ist aber längst vergessen. Sein Brot erwarb er als katholischer Priester, Kaplan, seine Passion galt dem Schreiben. Ein unseliger Vorwurf pädophiler Handlungen machte ihn ab 1902 zum ewig Getriebenen. Erst zwanzig Jahre später wurde er durch einen Artikel von Eduard Korrodi in der «Neuen Zürcher Zeitung» rehabilitiert. Wer ihn entdecken will, sollte mit dem von Charles Linsmayer neu zusammengestellten Lesebuch «Lieber lesen als schreiben» (2008) anfangen – oder eben mit «Pilatus». (BP)
Wettermacher, Drachensitz, Riesenheimat und Herrschergrab: Der Luzerner Hausberg Pilatus (2128 m) ist einer der sagenumwobensten Orte der Zentralschweiz. Und einer der schönsten. An klaren Tagen bietet er ein Panorama mit 73 Alpengipfeln. Zahlreiche Wanderrouten und mehrere Bergbahnen führen auf Pilatus Kulm. Oben angekommen kann man sich aufs Trefflichste im historischen Hotel verwöhnen lassen.