Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Hanns-Josef Ortheils Zürich

Schauplatz

«Ich sah sie am frühen Nachmittag jenes Tages, an dem ich in Zürich angekommen war. Ich hatte mein Hotel gerade verlassen und war die schmale, schattige Straße hinüber zum See gegangen, auf dessen Anblick ich mich schon eine Weile gefreut hatte. Inmitten der an seinem Ufer entlang laufenden Kastanienallee war ich stehengeblieben und hatte den Anblick genossen: Die sanften, auf und ab schwingenden, schon leicht ins Dunkle gefärbten Hügel des gegenüberliegenden Ufers, das zu den Alpenketten ausholende Graublau der stillen Wasserfläche, den Abdruck der auf ihr herumgeisternden Sonnenstreifen, die sich wie matte, breite Pinselstriche quer über diesen diffusen Grund legten. (…)
Mein letzter Blick aber streifte die langen, parallel zum Ufer stehenden Holzbänke, auf deren Sonnenplätze die jungen Paare sassen, (…) als mein Blick bei einer einzelnen Person hängenblieb, die zwischen all diesen Paaren langgestreckt und anscheinend schlafend auf dem harten Holz lag. Ich erkannte sie sofort, sie war es, sie lag da, als hätten wir uns vor wenigen Stunden nur kurz getrennt, um uns genau hier wieder zu begegnen. Ich spürte, wie mich dieser Anblick durchfuhr, ich erstarrte und fühlte mein Herz schlagen, es konnte doch nicht sein, dass sie sich so wenig verändert hatte, ich hatte sie seit beinahe achtzehn Jahren nicht mehr gesehen»

Hanns-Josef Ortheil: Das Verlangen nach Liebe (2007)

© KEYSTONE
Zu Roman und Autor

Judith und Johannes – eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch: In Zürich finden der Pianist und die Kunsthistorikerin nach einer Trennung von fast zwanzig Jahren zueinander zurück. Handlungsmässig passiert nicht eben viel. Ortheil formt einen ganzen Zürichkosmos aus dem Geist reifer, vollendeter Liebe.  Die Stadt an der Limmat gibt dazu die Idealkulisse ab: «Eine Stadt, in Goldpapier gewickelt, mitsamt See, schwankenden Booten und gezacktem Bergpanorama, das wie eine Königskrone steinalt von oben grüßt. Eigentlich muss Ortheil sofort Zürcher Ehrenbürger werden (...).» (Verena Auffermann). Zwischen Konzertsaal und Kunstmuseen werden kulinarische Höhepunkte eingeschoben, der genüssliche Verzehr von St. Galler Bratwürsten und Bürli oder ein Tête-à-deux in der berühmten «Kronenhalle» (Bild).
Hanns-Josef Ortheil (geb. 1951) ist Schriftsteller und Hochschullehrer. An der Universität Hildesheim ist er Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus und Direktor des neu gegründeten «Instituts für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft». (BP)

Zum Ort

Zürich ist mit rund 400'000 Einwohnern die grösste und mächtigste Stadt der Schweiz. Die grössten Banken und Versicherungen haben ihren Sitz hier, die Börse SIX (Swiss Exchange), die internationalen Organisation von Fussball (FIFA) und Eishockey (IIHF), die wichtigsten Industrieverbände. Wie in anderen Schweizer Städten, liegt der Anteil ausländischer Einwohner bei über 30 Prozent. Zürich versteht sich als internationale Grosstadt und wirbt als «Erlebnismetropole am Wasser» mit einem bunten Nachtleben und über 50 Museen. Zürich war eine treibende Kraft bei der Entstehung der modernen Schweiz. Im 19. Jahrhunderts war es Zufluchtsort deutscher Liberaler und das Zentrum der wirtschaftlich-politischen Elite («Zürcher Freisinn»), später wiederholt Brenn- und Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderungen. Eine spezielle Zürcher Tradition ist das «Sechseläuten» im April, ein Umzug der kostümierten Zunftmitglieder (ausschliesslich Männer – Frauen stehen am Strassenrand) und das abschliessende Verbrennen des «Böögg», der den Winter personifiziert. Anfang August zieht die «Street Parade» mit House und Techno eine Million Feiernde in die Stadt.