Günter Grass' Davos
«Als der Medizinstudent in Davos eintraf, war Neuschnee gefallen. Auf den Schnee schien die Sonne, und der Kurort sah wie auf einer Postkarte aus. Er war ohne Gepäck, doch mit fester Absicht gereist. (...). Bei Sonnenschein rauchend auf harrschem Schnee. Jeder Schritt knirschte. Am Montag fand die Stadtbesichtigung statt. Wiederholt die Kurpromenade auf und ab. Als Zuschauer zwischen Zuschauern unauffällig bei einem Eishockeyspiel. Zwanglose Gespräche mit Kurgästen. Weiß stand der Atem vorm Mund. Keinen Verdacht erregen. Kein Wort zuviel. Keine Eile. Alles war vorbereitet.»
Am Dienstag, 4. Februar 1936, wird Wilhelm Gustloff, Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz, durch vier gezielte Schüsse in Bauch und Brust ermordet. Tatort ist Davos, Täter der jüdische Medizinstudent David Frankfurter.
Nobelpreisträger Günter Grass (geb. 1927) hat dieses politisch motivierte Attentat 2002 in seiner Novelle «Im Krebsgang» aufgegriffen: Gustloff wurde nach seinem Tod von den Nazis zum Märtyrer stilisiert und ihm zu Ehren wurde ein Kraft-durch-Freude-Kreuzfahrtschiff auf den Namen «Wilhelm Gustloff» getauft. 1945 war der Passagierdampfer als Rettungsschiff im Einsatz, als er von einem sowjetischen U-Boot attakiert wurde. Die Schätzungen sind bis heute unklar, aber zwischen 5'000 und 9'000 Menschen fanden damals in den eisigen Fluten der Ostsee den Tod.
Für die Arbeit an diesem Text ist Grass tief in die Archive gestiegen (und auch ins Internet, wie mehrfach vermerkt wird). Er rollt die Geschichte von hinten auf, geht den biographischen Spuren von Wilhelm Gustloff nach und integriert das Davoser Attentat in den Erzählfluss. Meisterhaft ist die angespannte Wartezeit geschildert, die David Frankfurter im winterlichen Davos verbringt, um den idealen Moment abzupassen.
Nach der Tat stellte er sich der Schweizer Polizei und wurde zu achtzehn Jahren Haft verurteilt, aber nicht an Deutschland ausgeliefert. 1982 starb er in Tel Aviv.
Das Attentat in Davos wurde im selben Jahr vom deutsch-jüdischen Schriftsteller Emil Ludwig (Schweizer Bürgerrecht ab 1932) literarisch verarbeitet – im Sinne eines glühenden Plädoyers für die Tat eines David (Frankfurter) gegen Goliath. Sein «Mord in Davos» ist 1936 erschienen und sofort auf der Liste der verbotenen Bücher gelandet. (BP)
Davos (rund 11'000 Einwohner) im Bündnerland ist der grösste Bergferien-, Sport- und Kongressort der Alpen, mit 1560 m ü. M. die höchste alpine Stadt und ein Höhenkurort mit langer Tradition. Die erregerarme Höhenluft des «Zauberbergs» (das ehemalige Sanatorium auf der Schatzalp ist heute ein Hotel) hilft besonders Lungenkranken. Seit Arthur Conan Doyle 1889 das Skifahren in Davos beschrieb, zieht der Wintersport die Touristen in den Ort, denen neben Pisten und Loipen auch Europas grösste Natureisbahn zur Verfügung steht. Davos beherbergt die weltweit grösste Sammlung von Werken des deutschen Malers Ernst Ludwig Kirchner und ist Austragungsort des Weltwirtschaftsforums WEF.