Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
Logo Präsenz Schweiz

Gottfried Kellers «Seldwyla»

Schauplatz

«Starke Taue wurden in der Krone befestigt, lange Reihen von Männern daran gestellt, welche auf den Befehlsruf zu ziehen begannen; die Eiche schwankte aber nur ein weniges, und es musste stundenlang wieder gelöst und gesägt werden in den mächtigen Wurzeln. Das Volk aß und trank unterdessen und machte sich einen guten Tag, aber nicht ohne gespannte Erwartung und erregtes Gefühl. Endlich wurde der Platz wieder weithin geräumt, das Tauwerk wieder angezogen, und nach einem minutenlangen starken Wanken, während einer wahren Totenstille, stürzte die Eiche auf ihr Antlitz hin mit gebrochenen Ästen, dass das weiße Holz hervorstarrte. Nach dem ersten allgemeinen Aufschrei wimmelte es augenblicklich um den ungeheuren Stamm herum, Hunderte kletterten an ihm hinauf und in das grüne Gehölz der Krone hinein, die im Staube lag. Andere krochen in der Standgrube herum und durchsuchten das Erdreich. Sie fand aber nichts als ein kleines Stück gegossenen dicken Glases aus der Römerzeit, das vor Alter wie Perlmutter glänzte, und eine von Rost zerfressene Pfeilspitze. Auf einer fernen Berghöhe, über welche eben Jukundus mit den Seinigen langsam hinwegfuhr, riefen arbeitende Landleute plötzlich, nach dem Horizont hinweisend: ‹Seht doch, wie die alte Wolfhartsgeereneiche schwankt! weht denn dort ein Sturmwind?› Denn sie konnten die Leute nicht sehen, die daran zogen.»

Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla (1856)

 

© Wikimedia Commons, Lutz Fischer-Lamprecht
Zu Novellen und Autor

Seldwyla ist bewohnt von durchschnittlichen, phantasielosen aber durchaus sympathischen und feierfreudigen Faulenzern, die fast ausnahmslos im besten Alter Konkurs anmelden. Die spiessbürgerliche Kleinstadt «irgendwo in der Schweiz» lebt unter einer «Aristokratie der Jugend» und wer das 35. Lebensjahr erreicht hat, der ist arbeits- und damit zahlungsunfähig oder wandert aus. Es fehlt den temperamentvollen Seldwylern an Strebsamkeit, an Fleiss und an Geschick.
Der Grund für den kurzfristigen Erfolg der jungen Männer liegt im nahen Grün: Seldwyla grenzt unmittelbar an «unabsehbare Waldungen (…), welche das Vermögen der Stadt ausmachen». Holz ist begehrtes Kapital in diesen Schweizer Boomjahren und der Seldwyler Wald das «Paradies des Kredits». Mit atemberaubender Geschwindigkeit wird die Schweiz in jenen Jahren mit Eisenbahnschienen überzogen. Und so beginnen die Seldwyler Bürger mit einer grenzenlosen Baumschlächterei, nicht ahnend, dass sie sich mit der Zerstörung ihres kostbarsten Gutes, der Natur, ihr eigenes Grab schaufeln: Selbst die tausendjährige Wolfhartsgeereneiche fällt um des schnellen Geldes Willen. Doch nicht nur der Wald, auch der lustige, gesellige und festfreudige Charakter wird Opfer der radikalen Profitmaximierung… Kellers Novellenzyklus ist eine bitterböse Allegorie auf die tiefgreifenden Veränderungen in der fortschrittsfanatischen Schweiz des 19. Jahrhunderts. Die ersten fünf Novellen hat er übrigens fern der Heimat in Berlin verfasst.
Gottfried Keller (1819-1890) befand sich selbst über weite Strecken seines Lebens in Geldnot. Sein ursprünglicher Traum, Kunstmaler zu werden, endete 1842 – als Fahnenstangenmaler – in München bitter. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz widmete er sich dem Schreiben und nahm dafür noch einmal fast 20 Jahre Mittellosigkeit in Kauf. Im Wirtschaften ungeschickt, langsam und steif wie er war, stand sich Gottfried Keller des Öfteren selbst im Wege – und es gäbe heute wohl weder den «Grünen Heinrich» noch den «Martin Salander», wäre da nicht (ausgerechnet!) der Politiker und Eisenbahnunternehmer Alfred Escher gewesen, der Keller ein ums andere Mal finanziell wieder auf die Beine half. (AB)

Zum Ort

Wo liegt Seldwyla? Das haben sich viele Leser und Leserinnen bei Erscheinen von Gottfried Kellers Novellenzyklus gefragt. Der Dichter antwortete darauf mit viel Humor: Es rage «in jeder Stadt und in jedem Tale der Schweiz ein Türmchen von Seldwyla, und diese Ortschaft sei mithin als eine Zusammenstellung solcher Türmchen, als eine ideale Stadt zu betrachten, welche nur auf den Bergnebel gemalt sei und mit ihm weiterziehe.» Eine sehr wahrscheinliche Inspirationsquelle für die Seldwyler Stoffe ist Kaiserstuhl (Bild) – dort siedelte Keller seine Novelle «Hadlaub» an und fand Anregungen für den Seldwyla-Zyklus. Das Städtchen am Hochrhein blickt auf eine siebenhundertjährige Geschichte zurück und strahlt noch immer etwas mittelalterliche Verträumtheit aus. Seit 2001 kann man den Gottfried-Keller-Dichterweg begehen.