Gerhard Meiers «Amrain»
Eine Gasse gab den Blick auf den Jura frei. Ich sagte zu Bindschädler, daß mich der Jura, seiner sanft ausschwingenden Konturen wegen, an gewisse Musikstücke des Charles Yves erinnere, die gleichsam in Stille ausklängen. Baur entgegnete, von der Autobahnbrücke aus betrachtet, falle einem besagtes Ausschwingen dermaßen auf, besonders abends bei gutem Wetter, daß man versucht sei, wenn schon Musikstücke als Vergleiche herhalten müßten, dieses Ausschwingen jenem der Vierten Schostakowitschs gleichzustellen, wobei das Ausklingen dieser Sinfonie, für ihn zumindest, etwas vom Bewegendsten sei in der Musikgeschichte, soweit er diese überblicke.»*
Gerhard Meier: Baur und Bindschädler. Amrainer Tetralogie (1979-1990)
* Das Zitat stammt aus dem dritten Band, «Borodino»
Für Kenner und Kennerinnen ist Gerhard Meier (1917-2008) einer der grössten und wichtigsten Dichter der Schweiz. Sein Leben im Jurasüdfuss-5000-Seelendorf Niederbipp hat er zum literarischen Ereignis destilliert, als unermüdlicher Betrachter und Beobachter. Der Niederbipper Ehrenbürger wohnte zeitlebens in seinem Elternhaus. Seinem Heimatdorf hat er – unter dem Namen «Amrain» – in mehreren Romanen ein Denkmal gesetzt, denn «Amrain war das Zentrum der Welt.» Im Mittelpunkt steht dabei die Freundschaft der beiden alten Dienstkameraden Baur und Bindschädler, die miteinander endlose philosophische Gespräche führen, über Literatur, über das Leben und Sterben. In der «Baur- und Bindschädler»-Tetralogie erschafft Meier einen dörflichen Kosmos und eine Traumwelt zugleich, wo Tote, Lebende und literarische Figuren miteinander Umgang haben: «Schön wäre es gewesen, wenn der Grüne Heinrich, der Jakob von Gunten und meine Windfiguren sich hätten finden können, als Wanderer gewissermaßen – Wanderer vom Rande des Raums. Und wenn der Marcel Proust, Claude Simon, Samuel Beckett, Leo Tolstoi und die Virginia Woolf dann auf schwarzen Schimmeln, quasi als Don-Kosaken, in Erscheinung getreten wären (...)». So fantasiert der – verstorbene — Baur bei einem Gang durch sein Dorf. (BP)
Hinter «Amrain» verbirgt sich das Dorf Niederbipp am Jurasüdfuss im bernischen Oberaargau, auf halbem Wege zwischen Olten und Solothurn gelegen. In dem 5000-Seelen-Dorf steht an der Kirchgasse das älteste Bauernhaus aus dem Oberaargau, Teile davon datieren zurück auf das Jahr 1475.