Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Fleur Jaeggys Appenzell

Schauplatz

«Mit vierzehn war ich Zögling in einem Internat im Appenzell. In einer Gegend, in der Robert Walser viel spazierenging, während er in Herisau, nicht weit von unserem Institut, in der Nervenheilanstalt war. Er ist im Schnee gestorben. Fotografien zeigen seine Spuren und die Lage seiner Leiche im Schnee. Wir kannten den Schriftsteller nicht. Nicht einmal unsere Literaturlehrerin kannte ihn. Manchmal denke ich, es ist schön, so zu sterben, nach einem Spaziergang, sich in eine natürliche Gruft, den Appenzeller Schnee fallen zu lassen, nach fast dreißig Jahren Irrenhaus in Herisau. (...) Im Appenzell kann man nicht anders, man muss spazierengehen. Wenn man die kleinen Fenster mit den weissen Rahmen betrachtet und die emsigen glühenden Blumen auf den Fensterbänken, spürt man ein tropisches Gären, ein im Zaum gehaltenes Wuchern, man hat den Eindruck, dass im Innern etwas vor sich geht, was bei aller Heiterkeit düster und ein wenig krank ist. Ein Arkadien der Krankheit. Dort drinnen scheinen Frieden und Todesidylle im schmucken Glanz zu herrschen. Ein Jauchzen aus Kalk und Blumen. Vor den Fenstern ruft die Landschaft, und das ist kein Trugbild, sondern ein Zwang, wie wir im Internat sagten.»

Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung (1989, italienischer Originaltitel: I beati anni del castigo)

© KEYSTONE
Zu Novelle und Autorin

Die sechziger Jahre im Appenzell: Die Stimmung im Mädcheninternat Bausler im Appenzeller Dorf Teufen ist kühl, ja kalt, ein Gefühl der Isolation stellt sich unweigerlich ein. Doch da trifft die Neue ein, Frédérique. Mit aller Macht will die Ich-Erzählerin eine Freundschaft aufbauen zu dem Mädchen aufbauen.
Fleur Jaeggy ist 1940 in Zürich geboren, im Tessin aufgewachsen und als junges Mädchen nach Rom gezogen. Heute lebt sie in Mailand und arbeitet in einem Atelier in einem Altstadt-Palazzo mit Blick in einen, wie es scheint, verwunschenen Garten. Sie ist keine Vielschreiberin, ihr Werk ist schmal, aber in zwanzig Sprachen übersetzt. Ihre Bücher schreibt sie in ihrer Muttersprache Italienisch. Obwohl sie seit langem nicht mehr in der Schweiz wohnt, schöpft sie Stoffe und Motive aus dem «Schweizerischen», so auch in «Die seligen Jahre der Züchtigung».
Das Appenzell wird schon auf den ersten Seiten in ein Zwielicht getaucht, eine literarische Hommage ist es nicht, eher ein Sezieren des äusseren Scheins (Zitat). Das Institut selbst wirkt wie eine Gruft für junge Mädchen, Aufblühen und Verfaulen, Heranwachsen und Absterben liegen beunruhigend nah beieinander: «Dann kehrte man zum Bausler zurück, und die Gespräche wurden eingemauert.» Oder: «Das Internat wurde umhüllt von einem unterirdischen Wind, das Leben verfaulte, oder aber es erneuerte sich.»
Die «Neue Zürcher Zeitung» hat den Roman zusammen mit kanonischen Titeln von Glauser, Dürrenmatt, Frisch in die zwanzigbändige «Schweizer Bibliothek» aufgenommen. Zu den begeisterten Jaeggy-Lesern gehörten Ingeborg Bachmann und Joseph Brodsky: «Dauer der Lektüre: etwa vier Stunden. Dauer der Erinnerung: der Rest des Lebens», schrieb der Literatur-Nobelpreisträger über die Novelle. (BP)

 

Zum Ort

Fleur Jaeggy platziert ihr fiktives Bausler-Institut in Teufen (Bild). Den Namen – «des Abtes Zelle» – hat das Appenzellerland von der langen Verbundenheit mit der Fürstabtei St. Gallen, den Ruf knorriger Eigenbrödelei vielleicht von der Topographie. Seine Hügel sind mit Einzelgehöften übersät, Zentren oder gar Städte selten, jeder ist für sich. Im katholischen Halbkanton Appenzell-Innerrhoden werden die Volksentscheide in offener Versammlung (Landsgemeinde) «ausgemehrt» (noch 1990 stimmten die männlichen Innerrhoder gegen die Einführung des Frauenstimmrechts). Das Appenzellerland koppelt eine starke Tradition der Naturmedizin mit einer liberalen Zulassungspraxis für nichtakademische Heilkundige. Das entsprechende Angebot ist dicht.