Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Conrad Ferdinand Meyers Chur

Schauplatz

Da schmetterte ein Axtschlag neben ihr nieder. Sie erblickte ihren treuen Lucas, ohne Maske und barhaupt, der von hinten vordringend, ein altes Beil zum zweiten Mal auf Rudolfs bleiches Haupt fallen ließ und ihn anschrie: „Weg, Schurke! Das ist nicht Deines Amtes.“ Dann warf er den Sterbenden auf die Seite, drückte Lucretia weg und stand mit erhobener Axt vor Jenatsch. Der Starke, der schon aus vielen Wunden blutete, schlug mit wuchtiger Faust seinen Leuchter blindlings auf das graue Haupt. Lautlos sank der alte Knecht auf Lucretias Füße. Sie neigte sich zu ihm nieder und er gab ihr mit brechendem Blicke das blutige Beil in die Hand. Es war die Axt, mit der einst Pompejus Planta erschlagen worden war. In Verzweiflung richtete sie sich auf, sah Jürg schwanken, von gedungenen Mördern umstellt, von feigen Waffen umzuckt und verwundet, — jetzt, in plötzlichem Entschluss, hob sie mit beiden Händen die ihr vererbte Waffe und traf mit ganzer Kraft das teure Haupt. Jürgs Arme sanken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller Liebe an, ein düsterer Triumph flog über seine Züge, dann stürzte er schwer zusammen.

Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte (1876)

Zu Roman und Autor

Eine blutige Geschichte inmitten der Bündner Wirren des 17. Jahrhunderts, die in Grausamkeit und Spannung den historischen Begebenheiten in (fast) nichts nachsteht. Zu Beginn des Dreissigjährigen Krieges schreckt der Pfarrer Jürg Jenatsch als charismatischer Anführer radikaler Protestanten im Streit gegen die altgläubigen Eliten und die spanische Besatzungsmacht vor nichts zurück. Sein Eifer wird noch gesteigert, als die Spanier im Veltliner Mord (1620) seine Frau Lucia töten. Jenatsch verbündet sich daraufhin mit den französischen Herzog Heinrich Rohan und kämpft fortan an dessen Seite für Freiheit und Unabhängigkeit – um nach vielen siegreichen Schlachten in den Bündner Bergen wiederum von den Franzosen betrogen zu werden: Der Vertrag, der die langersehnte Unabhängigkeit Graubündens hätte bringen sollen, wird von ihnen in den Wind geschlagen. Jetzt tut sich Jenatsch mit den Spaniern zusammen: Ganz der Pragmatiker, konvertiert der Pfarrer zugunsten des Unabhängigkeitsvertrags zum katholischen Glauben und gemeinsam vertreiben sie die Franzosen erfolgreich aus Bünden.
Jenatsch wird dadurch zu einem mächtigen Oberst, was seinen zahlreichen Feinden missfällt. Man trachtet ihm deshalb nach dem Leben – und die dramatische Story erreicht ihren tragischen Höhepunkt an einem Fasnachtsfest in der Schankstube «Staubiges Hüetli» in Chur: Jentasch wird hier ausgerechnet von seiner Jugendliebe Lucretia Planta mit einer Axt grausam hingerichtet… Lucretia, die Unglückliche, ist nämlich die Tochter jenes katholischen Freiherrs Pompejus Planta, der Jahre zuvor selbst in grausamer Weise Opfer von Jenatschs radikalem Eifer wurde. Das Ende der Geschichte überflügelt die historischen Fakten in Sachen Dramatik dann aber ganz erheblich, denn in Wirklichkeit hatte Pompejus Plantas Tochter mit der Ermordung Jenatschs nichts zu tun.
Die 1876 erschienene «Bündnergeschichte» gehört zu den wichtigsten Werken der Schweizer Literatur des 19. Jahrhunderts. Und auch ihr Verfasser, Conrad Ferdinand Meyer, darf neben Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller als einer der grossen Schriftstellern des Landes jener Zeit gelten. Trotz vieler psychischen Krisen, Klinikaufenthalten und quälender Selbstzweifel schrieb er in den 1880er Jahren fast im Jahresrhythmus historische Novellen und Romane mit grossem Erfolg. (AB)

© KEYSTONE/Arno Balzarini
Zum Ort

Chur ist offiziell die älteste Stadt der Schweiz, die alsTransitort am Fusse des Calanda über Jahrhunderte eine wichtige strategische Funktion hatte. Die verwinkelte Altstadt wird von der über 800 Jahre alten Kathedrale (Bild) – Jörg Jenatschs letzter Ruhestätte – dominiert. An der Stelle des «Staubigen Hüetlin», dem Schauplatz seiner Ermordung, steht das «Alte Gebäu». 2012 aufwändig restauriert, fasziniert dieses Kunstwerk des Barock mit detailreicher, prunkvoller Innendekoration.