Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Charles Lewinskys Rütli

Schauplatz

«Zuerst kam die Schwurszene aus dem Tell. Gespielt haben die Darsteller vom Tellspiel in Altdorf. Von unten her sind sie gekommen und von oben durch den Wald. Nur hätte natürlich Nacht sein müssen.
Der Sonnenschein hat irgendwie gestört. Am Schluss haben sie einen Trick gemacht. So einen richtigen Theatereffekt. Die Szene hat nicht aufgehört wie beim Schiller. Sie waren alle in der Schwurpose, wie man sie ja kennt, und da hat einer gerufen: ‹Wann wird der Retter kommen diesem Lande?› Genau auf dieses Stichwort hat man von unten her wieder Fanfaren gehört. Auf dem ganzen Weg vom See bis zum Rütli waren Fanfarenbläser und Trommler aufgestellt, und die haben so gespielt, dass man den Eindruck bekam, die Töne kämen immer näher. Genau als die Musik am lautesten war, ist dann der Hitler aufgetaucht und zum Podest gegangen.»

Charles Lewinsky: Hitler auf dem Rütli (1984)

© KEYSTONE
Zu Buch und Autor

Was wäre gewesen, wenn Hitlers Armee auch die Schweiz überrannt und erobert hätte? «Am 10. Mai 1940 beginnt ein Alptraum unserer Geschichte: Die Hitler-Truppen marschieren in die Schweiz ein. Trotz tapferer Gegenwehr muss die Armee nach wenigen Tagen kapitulieren. Die Igelstellung wird überrollt. Der Bundesrat geht ins Exil. Der 'Gau Schweiz' wird dem Dritten Reich angegliedert. Es gibt keinen 'Sonderfall Schweiz' mehr. Schweizerinnen und Schweizer erzählen von ihren Erlebnissen und Erfahrungen aus schwerer Zeit. (...) Der Bankprokurist, die Fabrikbesitzerin, der Widerstandskämpfer, der Bundesratsweibel, der Koch im KZ Wauwilermoos – ihre Geschichten sind beklemmende Momentaufnahmen der Eidgenossenschaft unter fremder Besetzung.»
Nach eigener Aussage hat Charles Lewinsky diesen Text zusammen mit Doris Morf schreiben wollen, weil ihn die Aktivdienst-Legende schon immer geärgert hatte: Dass die pure Präsenz der Schweizer Armee Hitler von einem Angriff abgehalten hätte. Wie allgemein bekannt, ist die in vielen Punkten wenig rühmliche Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg erst in den Neunziger Jahren aufgearbeitet worden. Lewinskys und Morfs alternativgeschichtliche Volte ist ein scharfsinniger, früher Beitrag dazu – mit den Instrumenten des fiktionalen Erzählens. Geschickt montieren sie eine Parallelwelt, zu der sie  «Protokolle einer verdrängten Zeit» herausgeben.
Charles Lewinsky (geb. 1946) hat später mit grossen Romanen von sich sprechen gemacht – 2011 war er mit «Gerron» für den Schweizer Buchpreis nominiert, 2006 hat er mit «Melnitz» einen Roman vorgelegt, der bei Kritik und Publikum auf grossen Anklang gestossen ist. «Hitler auf dem Rütli» war seine allererste Publikation. (BP)

 

Zum Ort

«Anfang August» 1291 beschworen irgendwo am Vierwaldstättersee Vertreter die drei Gemeinschaften Uri, Schwyz und Unterwalden sich gegenseitig Beistand und Schutz. Daraus entstanden die Schweizerische Eidgenossenschaft und Schillers «Wilhelm Tell». Ob der – verbriefte – Schwur wirklich auf der einsamen Rütliwiese am Westufer des Urner Sees getan wurde, steht nur dort. Als 1859 Pläne für einen Hotelbau ruchbar wurden, sammelte die «Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft» Geld für den Kauf der 5 Hektar Land. Seither ist das Rütli eine Art nationaler Wallfahrtsort. Es ist nur per Schiff oder zu Fuss erreichbar.