Carl Spittelers Schwyz
«Aber wie sehr auch die Uhr und die sinkende Sonne mahnen mögen, oben bei dem Hüttchen werden wir eine Stunde ruhen; denn vor uns liegt zwischen dunklen Wäldern eine grüne, nicht allzu steile Halde von schwindelhafter Tiefe, oben einsam, unten mit hundert winzigen Häuschen besät, ganz zuunterst ein Zipfelchen Vierwaldstättersee, eingeschlossen in einem wahren Labyrinth von wirr durcheinander geschobenen trotzigen Alpenhäuptern. Das ist keine ‹Aussicht›, es ist mehr als das: eine Landschaft, und zwar eine Landschaft, wie sie etwa die Phantasie eines Lionardo da Vinci hätte träumen mögen.»
Carl Spitteler: Xaver Z'Gilgen (1891)
Ein Wanderer nimmt den Weg von Einsiedeln nach Schwyz unter die Füsse. Er geniesst die Aussicht von der Passhöhe Ibergeregg – und wird, ohnehin spät dran für den Abstieg, in Schwyz von einem Gewitter überrascht. Ein Senn gewährt ihm Unterschlupf. Im einfachen Gastzimmer findet sich sogar ein bisschen Lesestoff, darunter alte Gerichtsakten um Hexenprozesse. Völlig gefesselt erfährt der Erzähler, was sich vor langer Zeit nicht weit von der Sennenhütte und im nahen Brunnen zugetragen hat:
Xaver Z'Gilgen, Schiffsmann und Knecht zu Brunnen, verliebt sich in der Leventina in die temperamentvolle Speranza. Die beiden heiraten und ziehen in die Innerschweiz. Doch das ungewöhnliche und ungewöhnliche schöne, glückliche Paar sieht sich bald Rassismus und Neid ausgesetzt. Was mit ein paar Anzüglichkeiten begann, endet tragisch: Sowohl Speranza wie auch das ebenfalls auf den Namen Speranza getaufte Töchterchen müssen ihr Leben lassen. Und Xaver Z'Gilgen, der beide abgöttisch geliebt hat, hadert mit Gott, lästert ihn. Das Ende der Geschichte spart mit Details, aber auf Gotteslästerung stand im 17. Jahrhundert die Todesstrafe, Schafott oder Strick. Und so liegen über der anmutigen Da-Vinci-Landschaft (Zitat) die Schatten eines grausigen Schicksals einer kleinen schweizerisch-italienischen Familie.
Als der Wanderer nach der nächtlichen Lektüre fast schon gegen Mittag aufwacht, vermengen sich in seinem Kopf Gelesenes und am vorigen Tag Erlebtes: «Aber als nun beim Erwachen der glänzende Tag ins Zimmer schien und unten vor meinen Augen Brunnen über dem See im hellen Sonnenschein glitzerte und oben der hohe Mythen und der Yberg, da erinnerte ich mich, die ganze Nacht von dem unglücklichen Xaver Z'Gilgen, seinem schönen Weibe und der lieblichen kleinen Speranza geträumt zu haben. Wir wandelten alle vier von Einsiedeln nach Schwyz; Xaver und sein Weib jauchzten oben am Gipfel von den Felsen übers Tal, Speranza pflückte mir Enzianen, und ich nannte sie ein liebes, freies Schwyzerkind.»
Carl Spitteler arbeitete unter anderem als Privatlehrer (in St. Petersburg und Finnland) und als Feuilletonredakteur der «Neuen Zürcher Zeitung». 1893 konnte er sich, durch Erbschaft gesichert, endgültig dem Dasein eines freien Schriftstellers widmen und liess sich mit seiner Familie in Luzern nieder. Er kannte die Gegend gut und 1797 schrieb er – als Auftragsarbeit für die Gotthardbahnen – den Werbetext «Der Gotthard». Auch einige seiner Fiktionen spielen in der Zentralschweiz, zum Beispiel das berühmte Versepos «Olympischer Frühling» (1905), in dem er die Rigi mit dem griechischen Olymp verquickt und die antiken Götter auf Innerschweizer Alpwiesen wandeln lässt. 1919 wurde Spitteler mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. (BP)
Dem zwischen Vierwaldstättersee und dem kleinen Lauerzersee gelegenen Städtchen Schwyz verdankt die Schweiz ihren Namen und auch das Wappen. Im Jahre 1291 sind Uri, Schwyz und Unterwalden einen Bund eingegangen und noch heute werden die wichtigsten Dokumente der frühen Schweiz im Bundesbriefarchiv von Schwyz aufbewahrt. Die am Stadtrand verstreuten stattlichen Patrizierhäuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert, teilweise kleine Schlösschen mit eigener Kapelle und Ringmauer, sind Zeugen des einst blühenden Söldnerwesens (Reisläuferei), das mancher Schwyzer Familie zu Ruhm und Reichtum verhalf.