Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Annemarie Schwarzenbachs St. Moritz

Schauplatz

«Nun läute ich, der Liftboy schließt die Türe hinter mir, ich stehe mit gesenktem Kopf, während der Lift in der Halle hält: Einen Augenblick dringt Wärme und Geräusch hinein, ich hebe die Augen, eine Frau steht mir gegenüber, sie trägt einen weißen Mantel, ihr Gesicht ist braun unter dunklem, männlich herb aus dem Gesicht gekämmtem Haar, ich erstaune vor der schönen und leuchtenden Kraft ihres Blickes, und nun begegnen wir uns, eine Sekunde lang und ich fühle unwiderstehlich den Drang, mich ihr zu nähern, herber, schmerzlicher noch, dem ungeheuren Unbekannten zu folgen, das sich wie Sehnsucht und Aufforderung in mir regt –»

Annemarie Schwarzenbach: Eine Frau zu sehen (1929, erstmals veröffentlicht 2008)

Zu Buch und Autorin

Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) – die Schöne, die Reiche, die Weitgereiste, die Dichterin. Schon zu Lebzeiten ein Mythos, ein androgynes Geschöpf, befreundet mit Klaus und Erika Mann, umgegeben von Bewunderern und Bewunderinnen. Schwarzenbach war lesbisch, doch in ihren literarischen Werken ist von der Liebe zwischen Frauen höchstens andeutungsweise die Rede. Es war deshalb eine Sensation, als im Schweizerischen Literaturarchiv eine bisher unpublizierte Erzählung entdeckt und 2008 veröffentlicht worden ist. Der beeindruckende Coming-Out-Text der erst einundzwanzigjährigen Schwarzenbach ist voller Erotik und Begehren – allerdings bloss in der Vorstellungswelt der Ich-Erzählerin. Zu expliziten Szenen kommt es nicht, denn als sich die beiden Frauen endlich finden, wird den Lesenden die Hoteltür sanft vor der Nase zugedrückt. Der letzte Satz lautet: «Aber Ena hatte inzwischen dem wartenden Liftboy gewinkt, sie schob mich in den Lift, und bevor ich zur Besinnung kam, waren wir, ich weiß nicht wie, in ihrem Zimmer angelangt.»
Das Sehnen und Verlangen ist angesiedelt im mondänen Ambiente eines St. Moritzer Luxushotels, mit einiger Wahrscheinlichkeit ist das Suvretta Haus gemeint. Zwar werden ausser Chur nur die Ortschaften M. und P. genannt, doch es ist leicht, darin St. Moritz und Pontresina zu erkennen. Schwarzenbach bereichert ihre Liebesgeschichte mit leicht hingetupften Impressionen der Landschaft, sei es bei Nacht (wo vom Hotelzimmer aus zu hören und zu sehen ist, wie die Eisfläche für den nächsten Morgen präpariert wird) oder bei Tag, unter einem Himmel «von unerhörtem Blau» sitzend, «der sich weit und leuchtend über das Tal wölbte.»
Schwarzenbach hat kurz und intensiv gelebt. Im Alter von nur vierundreissig Jahren ist sie 1942 in ihrem geliebten Engadin an den Folgen eines Fahrradunfalls gestorben. (BP)

© KEYSTONE
Zum Ort

St. Moritz im Oberengadin hat nur rund 5'000 Einwohner, aber es ist eine Alpenstadt, 1.800 Meter über Meer: Mondän, elegant, zeitlos attraktiv, ist es seit dem 18. Jahrhundert die Spielwiese für das grosse Bürgertum. Das erste Hotel eröffnete 1856, es folgten Luxushotels für den internationalen Jetset, auch das Suvretta House. Die Olympischen Spiele waren zwei Mal zu Gast, 1928 und 1948. Exklusive Sportarten sind in St. Moritz zuhause: 1889 wurde der erste Bob gebaut und auf dem gefrorenen St. Moritzersee werden die Rennen des White Turf und des Moritz Polo World Cup ausgetragen. Die Sonne scheint an durchschnittlich 322 Tagen im Jahr – sie gilt als weitere Sehenswürdigkeit.