Andrea Faziolis «Corvesco»
«Über ihnen, ganz nahe, stand sein Elternhaus.
Er erkannte es auf Anhieb, auch wenn die Lampe nur wenige Details erfasste. Die gemauerten Wände standen noch, das Dach war eingestürzt. Pancho ließ das Licht über die Fassade gleiten. In dieser Finsternis, dieser Schwerelosigkeit, die ihm vorkam wie ein Schweben im Raum, hatte Contini das Gefühl einer Reise in die Zeit, oder in der Fantasie. Aber das Haus stand hier vor ihm, auf dem Grund des Sees, mit steinernen Mauern und leeren Fensterhöhlen, in denen hier und dort noch ein Stückchen Glas aufblitzte.
Contini zwang sich, regelmäßig zu atmen, er dachte an die Sonnentage in seiner Kindheit, an die weiten Wiesen rund ums Haus. Jetzt trieb er hier im schwarzen kalten Wasser und eine namenlose Furcht drückte ihm auf einmal das Herz zusammen.
Andrea Fazioli: Das Haus am Grund des Sees (2009, italienischer Originaltitel: L'uomo senza casa)
Vor zwanzig Jahren ist in einem Tessiner Tal eine Staumauer gebaut und ein Dorf geflutet worden. Seither rankt sich ein Geheimnis um den See, denn Menschen sind (darin?) verschwunden. Eine Serie von Morden schwemmt die alten Gerüchte und Geschichten wieder nach oben. Und im Strudel der Ereignisse steht Privatdetektiv Elia Contini, erst als Ermittler, dann als Verdächtiger. Im Dreieck zwischen Maviglia-Stausee, dem schicken Lugano und dem kleinen Bergdorf Corvesco, in dem Contini wohnt, entfaltet sich dieser atmosphärische Tessin-Krimi. Das Zitat beleuchtet die Szene, in der Contini mit einem Freund auf den Grund des Stausees taucht, um herauszufinden, was damals wirklich geschah. In einer Truhe finden sie, nur halb überrascht, zwei wächserne, aufgequollene Leichen. Kurze Atempausen zwischen den Spannungsmomenten erlaubt die Liebesgeschichte zwischen Contini und der Kunsthistorikerin Francesca. Am Ende ist es die Liebe, die sich aus einem Sumpf von Lügen, Verstrickungen und alter Schuld retten kann. Der Roman endet mit einem Kuss in die «Vertiefung zwischen Hals und Schulter» und einer Tasse Tee auf der Veranda von Continis Haus in Corvesco.
Andrea Fazioli (geb. 1978) lebt in Bellinzona, studierte Literatur in Mailand und Zürich und arbeitet für den italienischsprachigen Schweizer Rundfunk. (BP)
«Meine Krimis spielen nicht nur aus dem Grund in der italienischen Schweiz, weil ich dort lebe (das wäre doch ein bisschen zu einfach …), sondern vor allem, weil ich dort den idealen Raum für mysteriöse Geschichten gefunden habe. Anhand der Figur Contini, die gleichzeitig mit der Idee entstanden ist, die Krimis in der Schweiz anzusiedeln, lässt sich das gut zeigen: Tagsüber arbeitet er am Ufer des Luganer Sees und ist umgeben von eleganten Geschäftsleuten, die alle möglichen internationalen Deals abschließen. Abends kehrt er in die Berge heim, zum Bodenständigen, zur Stille und zur Natur. Das ist für mich die spannende Schweiz: zu gleichen Teilen städtisch zivilisiert und ungezähmt; weltmännisch und eigenbrötlerisch», erläutert der Autor. Corvesco ist der einzige erfundene Ort in dem Roman, Continis Wohnort, wo der Detektiv ganz zurückgezogen lebt, kocht, liest, Füchse fotografiert und wo ihn Francesca besucht. Stellvertretend für ein Tessiner Bergdorf wie «Corvesco» eines ist, zeigt unser Bild Olivone im Bleniotal.