Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Alice Rivaz' Bonnavaux

Schauplatz

«Doch halt mal: Sahen sie nicht genau von der Schwelle dieser grossen, zuhinterst auf der Hochebene von Bonnavaux gelegenen Alphütte aus, wo sie der Gedankenlosigkeit und Wanderlust ihrer Mutter wegen hatten schlafen müssen (...) Sahen sie nicht genau an jenem Morgen – aber ja doch, es war dort oben und an jenem Tag –, während die Tautropfen und die funkelnden, zitternden Reste des Nachtregens noch immer an den Tannenzweigen hingen und regenbogenfarbene Blitze in den Harzduft und die Morgenfrische der Bergluft aussandten... Ja, sahen sie nicht vor dem Blätterwerk, das vom Gewitter wie blankgeputzt erschien, am Rand der Waldlichtung und der bunt schillernden Wiese, die darauf zu warten schienen, von einem Fra-Angelico-Engel betreten zu werden, dort drüben, am Fuss der nahen Felsen (...)
Ja, genau, vor der Türschwelle dieser grossen Alphütte aus sahen sie aus der Tiefe jener wunderbaren Landschaft plötzlich zwei junge Männer auftauchen, die sich auf die beiden Frauen zubewegten und die, ganz lichtumwölkt, ihnen im morgendlichen Strahlenglanz wie zwei dem Tau und den nassen Felsen entsprungene Himmelsboten erschienen, denen sie aber, während sie näherkamen, sehr schnell ansahen, dass ihre Füsse nicht nackt waren wie die der Engel, sondern in soliden, eisenbeschlagenen Schuhen steckten, dass sie nicht Flügel, sondern riesige Rucksäcke am Rücken und nicht Blumen in den Händen, sondern Eispickel, Seile und Steigeisen trugen.»

Alice Rivaz: Schlaflose Nacht (1979, französischer Originaltitel: Jette ton pain)

Zu Buch und Autorin

Christine, 56, lässt in zwei schlaflosen Nächten ihr Leben Revue passieren: Liebschaften, verpasste Heiratsgelegenheiten, Enttäuschungen, und immer wieder Erlebnisse mit der Mutter, einer agilen, selbstbewussten Frau, mit der die Erzählerin eine lebenslange Hassliebe verbindet. Diese Mutter liegt nun, als gelähmte Greisin, im Zimmer nebenan, aufopferungsvoll gepflegt von der Tochter. Melancholische Rückblicke, gegenwärtige Situation und Ausblicke in eine Zukunft, bei der das Alter schon anzuklopfen scheint, machen aus dem Roman ein «Ein herausragendes Dokument weiblichen Lebens» (Elsbeth Pulver).
Über Genf, den eigentlichen Schauplatz der Handlung, erfährt man sehr wenig. Dafür einiges über das Umland, denn zu den bezauberndsten Passagen gehören Erinnerungen an Ausflüge und Ferien, sei es im Haut-Jorat oder in der Walliser Bergwelt, im Val d'Illiez (Zitat).
Alice Rivaz (1901-1998) gilt als eine der wichtigsten Westschweizer Autorinnen. Sie liess sich zunächst zur Pianistin und Musiklehrerin ausbilden, ehe sie eine Anstellung im Internationalen Arbeitsamt in Genf annahm. Fast 60 Jahre lang lebte Rivaz in einer winzigen Genfer Wohnung, wo auch ihr gesamtes literarisches Werk entstand.
Für dieses wurde sie mehrfach ausgezeichnet. So erhielt sie zweimal den Schillerpreis, 1975 als erste Frau den Grossen Literaturpreis der Stadt Genf und 1980 den Grand Prix C.F. Ramuz. (BP)

© wikicommons/Thomas Huntke
Zum Ort

Bonnavaux ist ein kleiner Flecken in den Alpweiden oberhalb von Rougemont in den Waadtländer Voralpen, nahe an der deutsch-französischen Sprachgrenze. Die Gegend beidseits der Wasserscheide heisst Pays-d’Enhaut, auf der freiburgischen Seite auch «Greyerzerland». Dort liegt die Heimat des Gruyère-Käses, der schon im Mittelalter geschätzt wurde. Die Landschaft ist als Naturpark Gruyère Pays d’Enhaut geschützt.