Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Sibylle Bergs Vevey

Schauplatz

«Pia sah dem Möbelwagen nach, der mit ihren Dingen beladen in Richtung Schweiz rollte. Sie selbst würde mit der kleinen Tasche reisen, die sie sich extra für diesen Tag gekauft hatte. Eine Art Körbchen, mit dem sie an der Seepromenade in Vevey spazieren gehen wollte. Die kleine Wohnung mit Balkon und Seesicht (2'400 Franken) hatte sie nur im Internet gesehen, war sich allerdings sicher, dass Schweizer nicht lügen würden. Die Bilder sahen genauso aus, wie Pia sich damals in Vevey ihr Leben vorgestellt hatte. Sie hatte sich eine Reise erster Klasse gegönnt, um den Beginn vom Rest ihres Lebens zu feiern. Sie warf den Schlüssel in den Briefkasten und ging zum ersten Mal in diesem Jahr der Reise und der Suche fast erregt vor Freude zum Bahnhof. Die Sonne schien, vielleicht sangen sogar ein paar Vögel, was aber im Ausbruch plötzlicher Hysterie nicht zu verstehen war.»

Sibylle Berg: Die Fahrt (2007)

Zu Roman und Autorin

Das Zitat hat eine Vorgeschichte: Nach einem Spaziergang in Vevey verliebt sich die weitgereiste Pia in die kleine verschlafene Stadt am Genfersee. Es scheint ihr ein Ort der Idylle zu sein in all dem Dreck der restlichen Welt. Ein Stück Paradies auf der sonst so trostlosen Erde. Nichts erinnert an Katastrophen oder Bombenanschlägen, an Krieg oder Armut. Nichts Böses fand hier statt. Träumend trinkt sie ihren Kaffee an der Uferpromenade und lässt den Blick über den See schweifen. Der war so sauber, dass man sogar darin baden konnte. In ihr tauchen Bilder eines möglichen Lebens in dieser herausgeputzten Stadt auf. Zurück in Berlin wird Vevey zu Pias Sehnsuchtsort (Zitat).
«Die Fahrt» (2009) begleitet die unterschiedlichsten Personen auf ihrer Suche nach dem Glück. Sie wollen weg aus der Armut, aus der Langeweile, weg aus ihrem Leben. Keiner ist mit seiner Situation zufrieden. Und so wird in den 79 Kapiteln auf dem ganzen Erdball ein erfüllenderes Leben ersehnt. Wir begegnen unter anderem Igor, einem ukrainischen Bergarbeiter, der seinen Schmerz mit Alkohol betäubt oder Pia, die durch die ganze Welt reist, und auch in der letzten Destination am Genfersee die Liebe nicht findet. So werden in der schonungslosen Weltsicht Bergs die Tagträume zur Flucht aus der erbarmungslosen Realität und das Reisen zur grossen Suche nach dem Sinn des Lebens.
Sibylle Berg, geboren 1962 in Weimar, ist eine deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Nach der Ausbildung zur Puppenspielerin siedelte sie 1984 in den Westen Deutschlands über und begann dort zu schreiben. Ihr Romandebüt «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» (1997) schlug hohe Wellen. Es folgten weitere Werke, wie «Amerika» (1999) und «Ende gut» (2004). Unverkennbar ist dabei stets die kritische und zynische Stimme der Autorin, die das Publikum stark polarisiert. Seit 1996 lebt Berg in Zürich und verfasst Romane, Theaterstücke, Essays und Kolumnen. (MT)

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Zum Ort

Vevey ist mit knapp 19'000 Einwohnern eine der grössten Städte im Waadtland und gilt als die «Perle der Schweizer Riviera». Sie erlebte ihre erste Hochblüte in der Zeit der Belle Epoque Ende des 19. Jahrhunderts. Die Seelage, der wunderbare Ausblick auf die Alpen bis nach Frankreich – den man am besten geniessen kann, wenn man mit einer typischen Zahnradbahn den Berg hinauf gefahren ist – und das für den Weinbau günstige Klima machen sie zu einem beliebten Ferienziel. Vevey ist mit dem Hauptsitz des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé ein modernes Wirtschaftszentrum. Wohl berühmtester und komischster Einwohner war Charlie Chaplin.