Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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S. Corinna Billes «Maldouraz»

Schauplatz

«‹Sie verlassen wirklich Maldouraz?›, wiederholte sie ungläubig.
‹Ich möchte auch gehen...›
Ihre Augen in dem müden Gesicht waren größer und schöner, wie auch die Sümpfe an der Rhone größer werden, wenn der Frost über die hohen Gräser gegangen ist, aber sie hatten ihren flüchtigen und zarten Ausdruck beibehalten, das Vorbeiziehen der Forellen am Grund des Wassers.
‹Sie sind...› Er wusste nicht, wie er es ihr sagen sollte. ‹Sie sind so zerbrechlich geworden. Und Sie sind noch schöner.›»

S. Corinna Bille: Venusschuh (1952, französischer Originaltitel: Le sabot de Vénus)

© Lorenz Hurni
Zu Roman und Autorin

Über die eisigen Wasser der Rhone schreitet eine alte, ausgemergelte Frau in schwarzem Kostüm… Der Student Martin Lomense trägt sie ans Ufer, nichts ahnend, dass diese Begegnung der Auftakt ist zu einem Winter voller rätselhafter Ereignisse. Martin folgt der alten Desirée nach Maldouraz, hoch oben in den Walliser Bergen: «Ein Dorf erhob sich inmitten der Finsternis gleich einer Pflanze oder einem wachsamen Tier. Über der Kirche, die wie ein Asbestfelsen schimmerte, drängten sich schmale Holzhäuschen in goldener Dunkelheit. Es war das letzte kleine, menschliche Lager auf der Erde, der letzte Wachtposten, danach kam nichts mehr.» Der junge Mann bleibt den ganzen Winter über und verliebt sich in Bara, die Frau, die alle Männer im Dorf verrückt macht. Da nimmt das Unglück seinen Lauf. Am Ende versucht Bara, ins Tal zu fliehen, Martin hilft ihr, doch da trifft Bara ein Schuss aus der Waffe ihres Ehemannes Grégoire: «Ihre Beine schienen immer noch zu rennen; niedergestreckt hatte sie die Fluchtbewegung beibehalten den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Arme mit schrecklicher Anmut ausgebreitet.»
Im Epilog lüftet Bille ein Geheimnis: Nämlich, dass das sagenhafte Maldouraz, das auf keiner Karte zu finden ist, eine Entsprechung in der Wirklichkeit hat: Sie schildert eine Wanderung, die derjenigen von Martin und Desirée entspricht. «Noch ein wenig Wind in den Zweigen, noch ein paar violette, knackende Baumstämme, davonrollende Kiefernzapfen, und das Dorf in den Bergen ist da: Chandolin. Auf seinen bernsteinfarbenen, abschüssigen Wiesen, wo noch einige Kühe, drei Schafe weiden, breitet es sich fast unverändert aus, trotz der verflossenen Zeit.» S. Corinna Bille (1912-1979) gehört zu den sprachgewaltigsten Dichterinnen der Schweiz. Sie war mit dem Westschweizer Schriftsteller Maurice Chappaz verheiratet, der mit «Das Buch der C. Für Corinna Bille» eine eindrückliche Hommage verfasst hat. (BP)

Zum Ort

Chandolin ist eine Mini-Ortschaft in einem abgelegenen Alpental (96 Einwohner, 1.936 Meter über Meer) und war bis 2008 eine selbständige politische Gemeinde. Das kleine Bergdorf im Val d’Anniviers, einem Seitental des französischsprachigen Wallis, war lange Zeit schwer zugänglich und wurde erst 1960 durch eine Fahrstrasse erschlossen. 1971 kam ein Sessellift hinzu. Der Dorfkern ist Vorbild für ein Schweizer Dorf im Europapark in Rust. Seit dem Bau des Grand Hotel 1897 ist Tourismus eine Haupterwerbsquelle. Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer weilte mehrfach in Chandolin.