Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Gertrud Leuteneggers «Mailänderkantine»

Schauplatz

«Das von draußen hereindringende Licht ist jetzt gelb wie die Tünche der Halle. Weit weg zuckt ein weißglühender Blitz in den See. Dies! Dies ist es! Der angehaltene Blitz! Auf einmal werden die alten Freiheitsbilder wieder sichtbar. Langsam dringen sie unter der Übertünchung durch, der ganze aufgewühlte See ist wieder da, die Finsternis ringsum, weit vorn der niederzuckende Blitz! In der Sturmflut schwankt das Boot, versinkt hinter der hochgepeitschten Gischt, eine fahle Faust ballt sich gegen den schwarzen Himmel, verwünscht sie ihre Ohnmacht? Einen Flüchtigen? Den tobenden See? Ein riesiger nackter Fuß taucht aus den Wellen, in ungeheurer Kraftanstrengung gespannte Sehnen, aber wieso zuckt der Blitz ununterbrochen in den See, wieso blitzt es denn da andauernd?! Das kann man nicht anders darstellen, sagt jemand, und von einem bewundernswürdigen Sprung wird erzählt, von einem kühnen, freiheitsrettenden Sprung, mitten aus dem Sturm auf die Felsplatte, wo? da! und überhaupt würde das Schiff gleich wieder abfahren, es ist nur ein Platzregen.»

Gertrud Leutenegger: Komm ins Schiff (1983)

© Hans-Rudolf Stoll
Zu Buch und Autorin

Es ist ganz müssig, die teils erotisch, teils kriminalistisch aufgeladene Handlung nacherzählen zu wollen, man würde dem Text, für den Traum, Erleben, Wahn und Erinnerung gleichwertige Bewusstseinslagen sind, all seinen Zauber rauben. Aber so viel kann man sagen: Es ist eine Ich-Erzählerin, die spricht, in einem atemlosen Monolog, manchmal angstvoll, dann wieder verführerisch, traumverloren. Und es ist eine Hymne auf die Liebe, die an ein stummes Du, einen namenlosen Geliebten, gerichtet ist. Immer wieder flackert auch die Erotik auf – durch zweideutige Szenen und Motive wie nackte Füsse, eine Maske, ein zerrissenes Kleid. Manchmal sitzt die Erzählerin allein auf der Bank in einem Ruderboot, manchmal ihrem Geliebten gegenüber – und zwischendurch sitzt auch ein Toter mit drin.
Der Schauplatz ist mit besonderer Raffinesse gestaltet: Die Tellskapelle am Urnersee wird zur «Mailänderkantine» verfremdet, einem alten, an einem namenlosen See gelegenen Hotel, das demnächst abgerissen werden soll. Und dennoch scheinen die berühmte Tellskapelle und die Wandgemälde schemenhaft durch die Mailänderkantine hindurch, am ehesten zu vergleichen mit einer Doppelbelichtung auf einer Fotografie (Zitat). Auf den allerletzten Zeilen findet sich nochmals eine Anspielung auf den Tellensprung, wie er auf dem Fresko im Kapelleninnern erscheint. Der Geliebte scheint zu einer Wiederholung des legendären Rettungssprungs anzusetzen und dann bricht der Text ab, mit einem Frage- und einem Ausrufezeichen: »Wie du den Fuß gegen den Bootsboden stemmst! Hör auf zu rudern! Wir kommen den Felsvorsprüngen zu nahe! Wohin willst Du? […] Was machst du! Nein! Du springst?!«
Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz und dort auch aufgewachsen, kennt die Innerschweizer Landschaft so vollumfänglich wie ihr Dichterkollege aus einer anderen Generation: Meinrad Inglin. Immer wieder kehrt sie zu Schweizer und Innerschweizer Themen zurück, auch und gerade vor dem Hintergrund eigener Wanderjahre, die sie in die Ferne geführt haben – Leutenegger hat in der italienischen und französischen Schweiz gelebt, in Japan, Hamburg, Berlin und Florenz, heute in Zürich. 2010 wurde sie in die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung berufen. (BP)

Zum Ort

Die Tellsplatte am Urnersee, Schauplatz von Wilhelm Tells legendärem Rettungssprung. Was wir heute sehen, ist das in den 1880er Jahren im Neorenaissancestil errichtete Gotteshaus, geschmückt mit vier Fresken des Basler Malers Ernst Stückelberg. Sie zeigen Motive aus der Tellsage, genauer: Motive, die sich eng an die Vorlage von Friedrich Schillers «Wilhelm Tell» (1804) halten - Rütlischwur (bis hin zu Details wie der meteorologischen Seltenheit des «Mondregenbogens»), Apfelschuss, Tellsprung und Tyrannnemord in der Hohlen Gasse. Die Tellsplatte war bereits im 18. Jahrhundert eine absolut obligatorische Station auf einer Tell-Wallfahrt. Johann Wolfgang Goethe notierte in seinem Reisetagebuch von 1775 den gängigen Zeitplan, der klingt, als wäre eine Busreisegruppe von heute unterwegs: «Auf dem See von Izenach nach Gersau zu Mittag im Wirthsh. am See. gegen zwey dem Grüdli über wo die 3 Tellen schwuren drauf an der Tellen Platte, wo Tell aussprung. drauf 3 Uhr in Flüely wo er eingeschifft ward. 4 Uhr in Altdorf wo er den Apfel abschoss.» Und Ludwig der II., der Bayernkönig und glühende Schiller-Verehrer, bekannt für seine bizarren Schlösser, hatte einst die Idee, just hier einen Monumental-Tell aufzustellen, mit gespreizten Beinen über dem Urnersee – natürlich in Anlehnung an eines der sieben Weltwunder der Antike, den Koloss von Rhodos. Die Tellsplatte ist zu Fuss, am stimmungsvollsten aber mit Schiff zu erreichen.