Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Annette von Droste-Hülshoffs Grosser Sankt Bernhard

Schauplatz

«Noch tappt er, wo aus dunklem Schaft
Die glatte Eisenspitze blinkt.
Da weicht des Armes letzte Kraft,
Und auf den Schnee das Knäbchen sinkt;
Es rafft sich auf, ergreift den Stab,
Gehorsam, leichtem Dienst gewöhnt.
‹Mein Kind! mein Kind!› der Alte stöhnt
Und nimmt die kleine Last ihm ab,
‹Was willst du noch zuletzt dich plagen?›
Späht mit der Augen trübem Stern
Beklommen durch den nächt'gen Schein; –
‹Du kannst nicht gehn, ich dich nicht tragen,
Und ach! das Hospital ist fern.
So müssen wir das Letzte wagen
Und kehren bei den Toten ein.›
Er lenkt die Schritte von dem Strand,
Sein Knäbchen hält er an der Hand.»

Annette von Droste-Hülshoff: Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard (1833)

Zu Gedicht und Autorin

Der Kern der Geschichte ist schnell erzählt: Ein Grossvater will mit seinem Enkel (aus ungeklärten Beweggründen) den St. Bernhard überqueren, mitten im Winter, bei eisigen Temperaturen. Die Sonne sinkt und der Greis spürt gleichzeitig seine Kräfte schwinden, er kämpft – weniger um sein Leben als um das des Knaben, der immer stiller wird. In der grössten Not finden sie in einem Beinhaus, neben Gerippen und Totenschädeln, Unterschlupf. Ein letztes Mal rappelt sich der Greis auf, weil er meint, Stimmen zu hören – die Mönche vom Sankt Bernhard, die vom Weg abgekommene Wanderer suchen. Am Ende findet Barry, ein Bernhardinerhund, den Knaben und trägt ihn zum Hospiz. Für den alten Mann hingegen kommt jede Hilfe zu spät. Abgesehen von der dramatischen Handlung beeindruckt vor allem die Schilderung der Landschaft: erhaben, aber tödlich.
Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) hat sechs Jahre an dem Langgedicht gearbeitet – allerdings ohne die Passstrasse und die Passhöhe des Grossen Sankt Bernhard, je gesehen zu haben. Die Droste musste sich auf Schilderungen aus zweiter Hand stützen: Sie las Erzählungen (darunter «Barri. Eine romantische Erzählung» von Christian Samuel Schier, die von einem heldenhaften Bernhardinerhund handelt, der Lawinenopfer rettete) Reisebeschreibungen (die berühmte von de Saussure) und liess sich von Schweizreisenden in Briefen und Gesprächen Einzelheiten berichten. «Ich bin zufrieden, wenn Julie nur ganz kurz bemerkt – z.B. Kirche ist groß und länglich, der Hochaltar mit gedrehter Säule, und Vergüldung, an einem Nebenalter ein altes schwärzliches Marienbild mit dem Kinde et cet., du siehst wohl, liebes Herz, wie ich es meine, nicht viel, aber doch die Hauptpunkte – doch werde ich jede genauere Angabe mit größtem Danke annehmen», so die Dichterin in einem Brief an eine Bekannte. Entstanden ist das Werk im Flachland, in Westfalen, auf dem herrschaftlichen Landsitz Rüschhaus. (BP)

© KEYSTONE
Zum Ort

In den Walliser Alpen thront der Grosse Sankt Bernhard auf einer Höhe von 2469 Metern und verbindet das Rhônetal mit dem Aostatal und weiter mit der italienischen Region Piemont. Im Römischen Reich war er einer der bedeutendsten Alpenübergänge und damals stand auf der Höhe ein Tempel, in dem der keltische Gott Poeninus verehrt wurde. Seinen heutigen Namen hat er durch Bernhard von Aosta der auf der Passhöhe um 1050 ein Hospiz gründete. Dort wurden auch die Bernhardiner gezüchtet, die als Rettungshunde für Lawinenopfer eingesetzt werden kann. Der berühmteste von ihnen, Barry (gestorben 1814) kann als ausgestopftes Prachtexemplar im Naturhistorischen Museum von Bern bestaunt werden. Der Pass kann nur in den warmen Monaten überquert werden, so auch im Mai 1800 von Napoléon Bonaparte und seiner Armee. Seit 1905 ist er mit dem Auto passierbar.