Leipziger Buchmesse 2014
13. — 16. März 2014
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Angelika Overaths Sent

Schauplatz

«28. September. Herbstbäume wie große Früchte. Aprikosenlicht, Apfelglanz. Eine flammende Birke. Noch sind die Lärchen grün, aber bald brennen die Hänge bis hinauf ins Blau.»

«29. Mai. Es beginnt die Zeit der Senter Juni-Wiesen, der Wiesen vor dem ersten Schnitt. Auf der besonderen geologischen Schichtung des Engadiner Fensters wachsen hier Wiesenblumen wie nirgendwo anders. Die Senter Wiesen gehören für mich zu den plausibelsten Gottesbeweisen.»

«2. Juni. Mit dem Hund gehen. Nasse Wiesen. Ein Rot beginnt aufzusteigen. Submarine Höhe. Wir laufen wie auf einem Riff, Wicken, als wogten sie unter Wasser, Fluten der Gräser. Über dem Tal ziehen Nebelschwaden die Bergrücken entlang. Die Gipfel sind weiß.»

Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch (2010)

© KEYSTONE
Zu Buch und Autorin

Die Schriftstellerin Angelika Overath (geb. 1957) und ihr Mann, der Literaturwissenschaftler Manfred Koch, besitzen seit den Neunziger Jahren eine Ferienwohnung in Sent, Unterengadin. 2005 beschliessen sie zusammen mit ihrem jüngsten Sohn, ganz dorthin zu ziehen. In «Alle Farben des Schnees» berichtet Overath von den Lesereisen, die sie quer durch Europa führen – und den vielen Rückkehren nach und stillen Tagen in Sent, das zum Ruhepunkt wird. Wenn der Sehnsuchtsort zum festen Wohnsitz wird, beginnen sich Lebens- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu verändern: «Anfänge, denke ich. Warum sind in diesem Dorf auf einmal Anfänge möglich.» Overath protokolliert diese Veränderungen präzise und zuweilen mit einer Portion Selbstironie. Staunend erfährt man, dass sie erste Gedichte auf Vallader schreibt – einem der fünf Dialekte im Rätoromanischen. Sie nennt diese Gehversuche in einer neuen Sprache eine «kleine beglückende Sucht.» Und für Farben hat sie ein ganz besonderes Auge, ist sie doch eine ausgewiesene Spezialistin, die einst mit einer Studie zur Farbe Blau in der Lyrik ihren Doktortitel erwarb. So ist das Senter Tagebuch die Geschichte einer Assimilation, eine Dorfchronik, eine Landvermessung und ein «poetischer Wetterbericht» in einem, wie ZEIT-Kritiker Markus Clauer lobt. (BP)

Zum Ort

Sent (deutsch: Sins) im Unterengadin grenzt an Österreich und Italien und gehört zu den Orten im Kanton Graubünden, wo Rätoromanisch bis heute die Sprache der Mehrheit ist. Im hoch (1440 m ü. M.) auf einer Sonnenterrasse gelegenen Dorf fällt die Vielfalt der Baustile auf. Die italienisch anmutenden «Palazzi» und die Herrschaftshäuser wurden meist von Auswanderern erstellt, die seit dem 17. Jahrhundert zunächst in Venedig und später in ganz Oberitalien gutes Geld als Zuckerbäcker und Kaffeehausbetreiber verdienten. Ihre Nachfahren kommen bis heute während der Sommermonate nach Sent, wo sie «randulins» (Schwalben) heissen.